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Kultur: Stückraths „Gute Seiten – schlechte Seiten“

In der Waldstadt-Buchhandlung sitzt man an diesem kühlen Novemberabend dicht gedrängt beieinander. Neben aufgeschichteten Stapeln von Harry-Potter- Bänden, Kochbüchern und Gartenfibeln.

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In der Waldstadt-Buchhandlung sitzt man an diesem kühlen Novemberabend dicht gedrängt beieinander. Neben aufgeschichteten Stapeln von Harry-Potter- Bänden, Kochbüchern und Gartenfibeln. Hier im Kiez kennen sich die Zuhörer. Man wispert freundlich miteinander, während man die Tür nicht aus den Augen lässt. Um den Auftritt nicht zu verpassen. Einige spannungsgeladene Minuten zu spät, kommt er: Der gelernte Schlosser, studierte Schauspieler, Kabarettist und (ganz neuerliche) Autor Lutz Stückrath. Forsch die wenigen freien Quadratmeter einnehmend, beginnt er mit verschmitztem Lächeln unter unverkennbarem Bürstenschnitt aus seinem soeben beim Eulenspiegel Verlag erschienenen Buch zu lesen: „Gute Seiten – schlechte Seiten – Geschichten, die das Leben schrieb.“

Es ist die Geschichte seines 67-jährigen Lebens, die hier auf 300 Seiten zu erfahren ist. Wenn auch der Titel nicht geradezu originell erscheint, so sind die Kindheitserinnerungen aus den Berliner Kriegs- und Nachkriegszeiten – „Oma – Opa – und Optionen“ – beispielsweise witzig und spannend erzählt. Man erfährt viele liebenswerte Episoden einer Berliner Göre, die zwischen dem gestrengen Opa Julius, zwei Omas und Mutti instinktsicher und erfindungsreich nach eigenen Entfaltungsmöglichkeiten sucht. Und findet. Schon sehr früh den Humor als wichtiges Überlebenselement erkennend. Auch als die Heimatstadt von Bomben zerschossen wird. Und sturzbetrunkene Rotarmisten die Wohnung beschlagnahmen, die dann in Oma Marthas Bett den Rausch ausschlafen. Und in der heimischen Küche der gesamten Belorussischen Armee einen zünftiger Haarschnitt verpassen. Hundehäufchen sich in den kargen Jahren als geeignete Scherzartikel erweisen und die lebenshungrigen Jungen zu immer neuen Streichen anregen. Oder im Kapitel „Räder, Reisen und Romantik“, in dem sich die Ostsee gleich hinter Prenzlau als seltsam unauffindbar zeigt. Eine lange Fahrradtour verursacht. Und drei Tage Stubenarrest einbringt. Oder als das „Personenstandswesen“ viel später im Kapitel „Hochzeit, Heim und Hochgefühle“ Stückrath mit Ute in fünf Minuten vermählt: „Im Namen des Volkes erkläre ich sie nun zu Mann und Frau, wenn sie bitte hier unterschreiben wollen. Nun sind se verheiratet, machen se was draus.“

Spätestens beim Verlesen oder Nachspielen dieser Szene ist Stückrath aufgestanden. Hat das Buch beiseite gelegt. Spielt nun weitere Szenen auf den wenigen Quadratmetern nach. Vom Grenzübergang an der Oberbaumbrücke in Zeiten des Kalten Krieges. Als das Kino im Westen für Bürger mit DDR-Ausweis noch 25 Pfennige kostete. Stückrath nach fünf konsumierten Filmen noch immer zwei Westmark in der Tasche behält, die den Genossen vom Zoll bei der Leibesvisite in die Hände fallen. Was ein einstündiges Protokoll zur Folge hat. Von orthografischen Fehlern strotzend. Die Haftung bleibt dann tatsächlich beschränkt, da Stückrath eidesstattlich versichert, die zwei Westmark unverzüglich bei der Staatsbank der Deutschen Demokratischen Republik abzuliefern.

Die Situationskomik dieser wahren Begebenheiten einer grotesken Zeit, im Schnelltempo vorgetragen, lässt sich oft nur schwer beschreiben. Aber die unverwechselbare Stückrathsche Art der Erfahrung und Nachahmung der Wirklichkeit geben dem Spiel und dem Text eine überzeitliche Wertigkeit. Die auch außerhalb des Kontextes verstanden wird, zum Lachen anregte und anregen wird.

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