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Kultur: Süßer Traum von Anarchie

Das Kulturereignis „Stadt für eine Nacht“ zog am Wochenende rund 30 000 Besucher in das Kultur-Areal an der Schiffbauergasse

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Es geht ja doch. Gemeinsam feiern, über alle Schichten und Gräben hinweg, die Potsdam sonst so oft spalten – wie etwa in den erbitterten Debatten um stadtplanerische Fragen. Solche Streits, das zeigten die von der Kulturlobby organisierten Diskussionsrunden, müssen nicht einmal ausgeklammert werden, sie können ganz friedlich in diesen Tag allgemeiner Lässigkeit integriert werden. Obwohl Tag nur halbrichtig ist, die Rede ist hier schließlich von „Stadt für eine Nacht“, bei der einmal im Jahr an der Schiffbauergasse alles, was Kultur ist, ineinanderfließen darf. Hoch-, Klein- und Subkultur, wen interessieren solche Schubladen wenn sich alles in einem großen, glücklichen Festivalgefühl auflöst. Wenn Studenten und Situierte, Jazz-Fans und Elektronik-Jünger gemeinsam selig über das zwölf Hektar große Areal taumeln, das so oft als unbelebt, als totsaniert beschrieben wird. Die Veranstalter wurden dafür belohnt: mit einem Besucherrekord von 30 000 Gästen.

Es stimmt natürlich: So viel Leben wie an diesem Samstag ist hier selten. Man könnte sagen: Nie. Außer eben an diesen 24 Stunden im Jahr. Aber tot, sagen Tobias Wellemeyer, Intendant des Hans Otto Theaters, wie auch Siegfried Dittler, Chef des Waschhauses, tot sei es ganz sicher auch sonst nicht. Alleine ins Waschhaus kämen jedes Jahr 120 000 Leute, die gesamte Schiffbauergasse hätte 350 000 Besucher, so Wellemeyer. Potsdams Kulturbeigeordnete Elona Müller-Preinesberger spricht sogar von bis zu 400 000 Besuchern. Aber auch sie träume davon, dass es hier jeden Tag so zugeht wie heute. Dass die Schiffbauergasse sonst aber verlassen vor sich hindümpelt, dem widerspricht Wellemeyer vehement. „Wir sind gut besucht, das ist die Wahrheit. Wenn an einem Mittwochabend 130 Leute in die Vorstellung kommen, dann ist das gut.“ Natürlich könnten es immer mehr sein, könnte es jeden Abend ausverkauft sein. Aber warum, könnte man andersherum fragen, sollte es bei den Theatergängern anders sein als bei den Lesern?

Erst zuletzt hatte der Schriftsteller Martin Walser im PNN-Interview über das ewige Lamento gelacht, die Kinder würden heute nicht mehr lesen. Dabei sei der Anteil an Lesern immer gleichbleibend. Überhaupt, die Kinder: „Es wird meist vergessen, dass wir oft zwei Vorstellungen am Tag für Kinder spielen, eben am Vormittag“, sagt Wellemeyer und meint damit: Da ist ein Publikum, das das Gelände vielleicht nicht abends belebt, das aber da ist. Und dafür, dass seine Zuschauer abends nach der Vorstellung fluchtartig die Schiffbauergasse verlassen, anstatt bei Wein und Bier das Gesehen zu verdauen, hat er eine einfache Erklärung. Die Anbindung funktioniert nicht – übrigens nicht einmal in dieser einen, besonderen Nacht im Jahr. Wer nach Berlin – oder auch nur Richtung Innenstadt, Potsdam-West oder Babelsberg will, hat hoffentlich ein Auto oder nichts gegen Laufen. Straßenbahn oder Bus fahren bis 1 Uhr noch gelegentlich, danach ist man besser schon weg.

Das, sagt Wellemeyer, halte er der Stadt schon ewig vor. Das Hans Otto Theater habe sogar mal analysiert, dass verkehrstechnisch eigentlich schon ab 21 Uhr Schluss ist an der Schiffbauergasse. Trotzdem weiß Elona Müller-Preinesberger bis heute nicht, was eine Taktverdichtung kosten würde. Die Schwerpunkte würden im öffentlichen Nahverkehr eben in Richtung Universität gesetzt, so Müller-Preinesberger. Das andere Argument laute: Es kommen zu wenig Leute an die Schiffbauergasse, deshalb lohne eine Verdichtung nicht.

Dass niemand kommt, wenn er nicht wieder wegkommt, ist für die Verkehrsplaner allerdings offenbar zu weit gedacht. Dabei sieht Wellemeyer noch ganz andere Potenziale: „Etwa ein Drittel unserer Besucher kommen inzwischen aus Südwest-Berlin, aber da kommt man abends nur mit dem Auto hin.“

Ein Publikum, nicht nur für die massenkompatiblen Sparten, ist jedenfalls da, ob in Potsdam oder Berlin. Das ließ sich am Samstag beobachten, als sich auch zur zweiten Vorstellung von „Transit in Préludes“, der aktuellen Produktion des Choreografen Shang-Chi Sun die Leute trotz des milden Abends in die warme „fabrik“ drängten. Und zwar so viele, dass einige Wartende in einem längeren Prozedere auf die letzten freien Plätze verteilt werden mussten – so viel Begeisterung für zeitgenössischen Tanz, während draußen schon die ersten Partys losgingen, das muss man eben auch der exzellenten Arbeit anrechnen, die die „fabrik“ seit 25 Jahren leistet. Die fing hier an, als alles noch Chaos war, Anarchie. „Die Anarchie erhalten“, sagt Wellemeyer, das will auch er, und man will ihm beipflichten – auch wenn das natürlich das ist, was alle Theaterintendanten quer durch die Republik sagen, immer sagen müssen, weil man das vom Theater erwartet, keiner will ein Stadttheater, das für Ruhe und Mäßigung sorgt. Ein bisschen sind diese süßen Erinnerungen an die wilden Anfangsjahre ja auch immer so was wie der Gründungsmythos jeder guten Beziehung. Wenn harte Zeiten kommen, erinnert man sich an den Zauber des Anfangs, als alles möglich schien – und vergisst dabei oft, dass diese Träume nicht selten genau den Status quo zum Inhalt hatten, den man inzwischen erreicht hat: nämlich dass der Laden irgendwie läuft.

Wenn es fad wird, muss man eben weiterträumen und die Frage ist also, wie gut es Wellemeyer und Dittler gelingt, ihre Träume und die Anarchie in den Alltag zu retten, in die übrigen 364 Tage und Nächte des Jahres. Und es stimmt: Aktuell existieren an der Schiffbauergasse vor allem Bühnen. Häuser, wo Fertiges präsentiert wird, wo zumindest die Kreativität hinter verschlossenen Türen stattfinden. Was fehlt, sind Ateliers, Proberäume, das Prozesshafte. Das könnte sich etwa ändern, wenn die ehemalige Husarenkaserne, die das Areal zur Berliner Straße hin abgrenzt, den vielen seit der Schließung der Alten Brauerei obdachlos gewordenen Potsdamer Bands zur Verfügung gestellt wird. „Dazu wird derzeit ein Gutachten erstellt, es muss geschätzt werden, was der Komplex wert ist, dann mit der Bima, der er gehört, verhandelt werden“, sagt Birgit-Katharine Seemann, Kultur-Fachbereichsleiterin der Stadt. Es wäre wünschenswert, dass das klappt, so Seemann.

Konkretere Ideen, die inhaltlichen wie räumlichen Zwischenräume der Schiffbauergasse mit Leben zu füllen, haben Wellemeyer und Dittler. Der HOT-Intendant träumt von einer Bühnenbild-Biennale, ein zweijähriges Festival für die Kunst der Kulisse also. „Das wäre einzigartig in Deutschland – aber es würde eben eine Menge Geld kosten“, sagt Wellemyer. Klar, am Geld sind schon die schönsten Träume gescheitert, allerdings würde so eine Biennale Potsdam in der deutschen Theaterlandschaft schon in eine ziemlich andere Liga katapultieren.

Es geht aber auch kleinteiliger. Ein Herbstfest etwa, oder ein Bildhauer-Symposium, wie es Dittler vorschwebt. Viel sei ja – etwa mit dem jüdischen Filmfest, den Schirrhofnächten, mit „lit:potdam“ oder auch der Modemesse „Potsdam Now“ – schon passiert, so Wellemeyer. Was immer ein bisschen fehlt, das wird an diesem Samstag bewusst, ist der sinnliche Aspekt, oder um es derber mit Brecht zu sagen: das Fressen vor der Moral. Da passt es, dass Dittler sich auch ein Streetfood-Festival vorstellen könnte. Wenn ihm nicht die Leute fehlten.

In dem Moment, als er das sagt, zeigt sich – auch wenn die Idee zwischen ihm und Müller-Preinesberger vielleicht schon lange abgesprochen war – das integrative Potenzial von Kultur. Sie suche händeringend nach Möglichkeiten, die Flüchtlinge, die in Potsdam ankommen und die oft noch keine Arbeitserlaubnis haben, zu beschäftigen. Kultur als Willkommenskultur also? Wellemeyer springt darauf an. Am HOT hat er für die kommende Spielzeit ohnehin eine ganze Reihe von Stücken zum Thema Flucht und Vertreibung geplant. Miteinander kann in Potsdam also auch im größeren Kontext funktionieren.

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