
© Anja Beutler
„Liebeserklärung“ in der fabrik: Tanz dich nackig
Sechs Jugendliche haben Handkes „Publikumsbeschimpfung“ neu interpretiert und zu einer zeitgemäßen Provokation gemacht
Stand:
Es gab eine Menge, auf das man wütend sein konnte, als Peter Handke 1965 die „Publikumsbeschimpfung“ schrieb. Die Deutschen schwiegen über die Verbrechen, die sie während der Nazi-Zeit begangen hatten. So wie sie damals auch geschwiegen hatten. Um da etwas aufzubrechen, brauchte es schon drastische Mittel. Und eine neue Form des Theaters.
Heute ist immer noch vieles schlimm, manches wird gerade wieder schlimmer. Aber die Regeln haben sich geändert. Keiner schweigt mehr. Eher schreit man sich an. Zumindest orthografisch. Ausrufezeichen sind die Klammer dafür, die Beschimpfung – siehe Trump, siehe Pegida, siehe jeder, der auf Twitter nicht meiner Meinung ist – ist normaler Teil des öffentlichen Diskurses geworden. Provozieren kann man mit Schimpfen längst keinen mehr.
Mit etwas anderem schon. Wenig gilt heute als so uncool, wie jemandem seine Liebe zu erklären. Dabei erfordert beides, zumindest wenn man es von Angesicht zu Angesicht macht, ziemlich viel Mut. Man entblößt sich, gibt zu, dass man eine Meinung hat über einen anderen.
Deshalb haben Nicole Beutler und Magne van den Berg für ein Stück mit Jugendlichen Handkes „Beschimpfung“ also umgeschrieben zu einer „Liebeserklärung“. „Das ist viel nötiger in dieser Zeit“, sagt Beutler. Seit drei Jahren sind sie mit den sechs Jugendlichen mit diesem Stück auf Tour, am heutigen Freitag kommen sie damit in der Reihe „Zigzag“ in die Potsdamer fabrik.
„Natürlich war es für die Darsteller eine Überwindung, das Publikum direkt anzusprechen“, sagt Beutler. Denn anders als „im Spiel“ oder im sozialen Netzwerk entsteht sowohl bei der „Beschimpfung“ als auch in ihrer „Liebeserklärung“ eine echte Beziehung zwischen den sonst manches Mal träge konsumierenden Zuschauern und den Performern.
Die auch eine gewisse Abgeklärtheit mitbringen. Weil, so Beutler, die Beschimpfung als Mittel zur Kommunikation schon so normal geworden ist. „Viele kommen mit der Erwartung: Das kann ich schon ab, das halte ich schon aus.“
Dass die Jugendlichen ihnen danken, sich tatsächlich vor ihnen emotional entblößen – das rühre viele an.
Was dabei hilft, ist der Tanz. Den gibt es bei Handke natürlich nicht. Eigentlich aber ist er ja die unmittelbarste Ausdrucksform. „Wir tanzen ja alle – nämlich auf Partys“, sagt Beutler, und genau diese Kraft, die da entsteht, die Solidarität, die entsteht, wenn sich alle gleich albern bewegen, einfach, weil sie ihrem innersten Gefühl folgen, hat sie sich zunutze gemacht.
„Tanzen, also der Musik folgen, das ist das Dionysische, nach dem wir alle suchen“, meint die Choreografin. Man könnte auch sagen: Suche und Antwort zugleich für das eine. In seiner Eigenart geliebt zu werden. Ich zeige dir, wie ich mich bewege – und du erkennst darin meine Schönheit. Geholfen hat den Jugendlichen in diesem Fall die Musik des DJs und Komponisten Gary Shepherd.
In „Liebeserklärung“ haben sie die Bewegungen, die zum Tanz führen, direkt aus dem Text entwickelt, indem sie Teile davon in Gebärdensprache übersetzt haben. „Der Text ist das Rückgrat des Stücks, der erst chorisch gesprochen wird – und über die Bewegung dann eine irre Schlagkraft entfaltet“, sagt Beutler.
Es hilft natürlich, dass alle sechs Jugendlichen musikalisch sind, einige können beatboxen, eine besonders gut singen, ein paar kommen aus dem Hip-Hop.
Trotzdem war es harte Arbeit. Es ist nicht leicht, echten Kontakt herzustellen zu immer neuem Publikum, wenn man auf der Bühne steht. „Die Jugendlichen mussten schon ihre Komfortzone verlassen, die mussten aus der Reserve gelockt werden.“ Weil nur, wer wirklich die Hosen runterlässt, dem anderen begegnen kann. Das Schimpfen, wie man es heute kennt, ist dagegen nur eine formale Hülle. Eine, die den anderen im Zweifel eher auf Abstand hält.
„Liebeserklärung“ von Nicole Beutler, Magne van den Berg in der Reihe „ZigZag“ in der fabrik in der Schiffbauergasse. Beginn am heutigen Freitag und morgigen Samstag um 19 Uhr, Eintritt 12 Euro, ermäßigt 8 Euro, bis 19 Jahre 4 Euro
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: