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Kultur: Tempel für eine Nacht

Zehn Jahre Brandenburgisches Literaturbüro: Feier in der Druckerei Rüss

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Zehn Jahre Brandenburgisches Literaturbüro: Feier in der Druckerei Rüss Von Matthias Hassenpflug Im Umgang mit Niederlagen zeigt sich die wahre Statur. Hendrik Röder vom Brandenburgischen Literaturbüro, das am Sonnabend in der Druckerei Rüss hinter der Garde-Ulanen-Kaserne sein Zehnjähriges feierte, musste irgendwie die Minuten überbrücken, bis die Kulturministerin Johanna Wanka ihre Grußworte sprach. Röder betrat das kleine Podest, das vor der wie ein schlafender Wal ruhenden Druckstraße stand, umringt von den vielleicht 200 Gästen und entwickelte aus der größten Niederlage seiner Literaturpflegeeinrichtung eine unterhaltsame Anekdote mit stand-up-comedy-Qualität. Sie handelte von dem KZ-Hochstapler Binjamin Wilkomirski, der auf Lesereise durch Brandenburg war. Das Publikum in Neuruppin reagierte gegenüber dem vermeintlichen Auschwitz-Überlebenden fast unverschämt reserviert. Damals glaubten alle die Lügengeschichte und blamierten sich hinterher. Nur die zuvor für ihren Argwohn gescholtenen Neuruppiner Zuhörer nicht. Während Tabletts mit Parmaschinkenschnittchen, Schwarzbrot-Minifrikadellenpyramiden und vorzüglichsten Lachsröllchen von himmlisch servilen Servicekräften beständig in Rotation gehalten wurden, konnte Röder auch auf die zwei größten Erfolge und Entdeckungen innerhalb der zehnjährigen Tätigkeit verweisen. Der Nobelpreisträger Imre Kertész („Roman eines Schicksallosen“) und der diesjährige Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino wurden von ihm lange vor ihren Auszeichnungen durch die märkischen Weiten geschickt. Die Lesung von Genazino aus seinem Melancholikerroman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ wurde dann auch zum stimmungsmäßigen Höhepunkt eines langen Abends, dessen sich über sieben Stunden hinziehender Spannungsbogen durch die uneingeschränkte Großzügigkeit des Barpersonals seine souveräne Geschmeidigkeit beizubehalten verstand. Im Grunde ist die Druckerei Rüss in ihrer so geschmackvoll restaurierten historischen Waffenschmiederei mehr als nur ein Ort, an dem beispielsweise die bibliophilen Schätzchen des Potsdamer vacat Verlags gedruckt werden, der zusammen mit dem Literaturbüro seinen ersten runden Geburtstag feierte. Der wunderbar warme Fußboden aus kiefernem Hirnholzpflaster, die sauber geordneten Farbtöpfe im Regal, und das schlichte, gekalkte Mauerwerk dazu bilden einen wahren Tempel der Druckereikunst. Als durchdringe diesen Tempel ein Glaube, dass die Güte eines Buches auch durch eine leidenschaftliche Hingabe bei seiner Herstellung befördert wird. Es können Bücher entstehen, „die glücklich machen“, wie die Schriftstellerin und Laudatorin für den vacat Verlag Antje Strubel es ausdrückte. Dieser glücklich machende Geist setzte sich auch in der loft-artigen Dachetage des Gebäudes fort, wo die Lesungen stattfanden. Wie Inseln lagen die großen abgerundeten Arbeitstische im von Holzbalken durchbrochenen Raum. Um die größte Insel drängen sich vielleicht 150 Zuschauer. An ihr nahm Wilhelm Genazino Platz und begann mit seiner Verführung. Genazinos Geschichte von einem Ich-Erzähler, dessen Gedanken und Beobachtungen über die Merkwürdigkeiten des Lebens immer haarscharf auf der Grenze zwischen tiefer Traurigkeit und bitterer Komik liegen, gewann durch den Vortrag überraschend an Heiterkeit. Das Publikum und sein herzhaftes Lachen wurde vom Büchnerpreisträger durch lustvollen Einsatz der Pointen gesteuert. Ein lange anhaltender theaterreifer Applaus war der Dank. Gegen diese literarische Offenbarung hatten weder die schon zu DDR-Zeiten etablierte Romanautorin Renate Feyl mit Passagen aus ihrer Medien- und Radiokritik „Streuverlust“, noch die altersmilden Erinnerungen von Helmuth Karasek („Auf der Flucht“) eine wirkliche Chance. Übrigens kann der Spaß dieses langen Abends, Kolportagen zufolge, durch ein pfiffiges Sponsorengefüge den notorisch klammen öffentlichen Trägern auch finanziell in bester Erinnerung bleiben. Morgen veranstaltet das Brandenburgische Literaturbüro eine Podiumsdiskussion zur Ausstellung „Die Dritte Front“ im Kutschstall (19.30 Uhr). Karrieremuster in Deutschland vor und nach 1945 werden diskutiert: mit Jörg Friedrich, Rolf Schneider, Peter Walther, Moderation Jörg Lau (Die Zeit). Eintritt: 4 Euro.

Matthias Hassenpflug

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