Von Heidi Jäger: „The King’s Speech“ des Tanzes
Die kanadische Companie „O Vertigo“ gastiert in der „fabrik“-Reihe „Meisterchoreografen“
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Als Kind hörte sie von ihrer Mutter oft scherzhaft, dass sie „Vertigo“ habe, eine Pferdekrankheit, die zu unkontrollierten Bewegungen führt. Ginette Laurin, inzwischen 56 Jahre, hat längst zu sehr kontrollierten Bewegungen gefunden. Schließlich ist sie Meisterchoreografin und tourt mit ihrer Gruppe aus Montreal weltweit durch alle renommierten Häuser des zeitgenössischen Tanzes. Doch im Namen ihrer Companie, die sie seit 27 Jahren leitet, trägt sie ihre Kindheit fort. „O Vertigo“ heißt Ginette Laurins Tanzensemble, das nach Wien nun am Freitag und Samstag in der „fabrik“ Station macht. Ein Name mit Programm. Denn nicht um Perfektion geht es in ihren Aufführungen, sondern um Zerbrechlichkeit, um Schwächen, die jeder besitzt und die nicht kaschiert, sondern nach außen getragen werden sollen. Ein bisschen ähnele ihre Arbeit dem Oscar prämierten Film „The King’s Speech“, der das Stottern zum Thema macht, sagt die Frau mit den kurzen fransigen Haaren, die ihr weiches Gesicht frech und jugendlich umspielen. Doch wie zeigt man Tänzer, die zumeist perfekt und grenzenlos in ihrer körperlichen Ausdruckskraft auftrumpfen, als fragile Geschöpfe?
Die 17 Darsteller, die am Wochenende den frisch geschliffenen „fabrik“-Bühnenboden mit ihrer „Schockwelle“ (Onde de Choc) überspülen, lassen in ihr Inneres schauen. Sie schärfen die Sinne für das, was unter der Oberfläche des Körpers brodelt: das Pochen des Herzens, das Rauschen des Blutes. Mit Mikrofonen und Stetoskopen werden die Töne verstärkt, die die Lebensader speisen. Man hört das durch Bewegung angeheizte Herz schlagen, als würde es jeden Moment aus dem Körper springen. Anders als im Ballett, wo die Tänzer auf Spitzen balancieren und das Fliegen symbolisieren, lassen die Tänzer von Ginette Laurin dabei ihre Körper fallen. Im Gewicht, in der Beziehung zum Boden sieht die im französischsprachigen Quebec lebende Kanadierin die Schönheit des Tanzes. „Das heißt nicht, dass das Stück traurig oder dunkel ist. Das Herz ist auch das Organ der Freude, des Überschwangs“, sagte die Choreografin und führt dabei behände ihre Fingerspitzen immer wieder an das eigene Herz. Sie will mit dem Publikum kommunizieren, indem sie Gefühle anspricht. Nicht der Kopf ist es, den sie mit Fragen vollpumpt. Der Tänzer soll sich „erden“ und damit die Schleuse öffnen zu seinem Gegenüber. „Eigentlich ist jeder Tänzer daran gewöhnt, zu tricksen. Er gibt uns ein Bild von sich und von den Menschen, das geschönt ist und von einer besonderen Leistungsfähigkeit spricht.“ Ginette Laurin aber will nicht, dass er eine Rolle spielt, sondern sein wahres Ich offenbart.
Die erfahrene Choreografin weiß, wovon sie spricht, hat sie doch jahrelang selbst auf der Bühne gestanden. Allerdings als „Spätzünderin“. Erst mit 17 Jahren schrieb sie sich an einer Tanzschule ein und malträtierte an der Seite von 12-Jährigen die Ballettstange. Sie träumte jedoch nie davon, irgendwann als Primaballerina den Sterbenden Schwan zu tanzen, sondern warf schon bald ein Auge auf den zeitgenössischen Tanz. Dort absolvierte sie parallel zum Ballett eine Ausbildung, um anschließend freiberuflich als Tänzerin in verschiedenen Gruppen zu arbeiten. Irgendwann landete sie bei Daniel Léveillé, dem namhaften Choreografen, der im vergangenen Jahr an der „fabrik“ gastierte und die jetzt fortgeführte Reihe „Meisterchoreografen“ eröffnete. Sie übernahm nach zweijähriger Assistenz dessen Companie und versah sie nicht nur mit neuen Tänzern, die ihrem Stil entsprachen, sondern auch mit neuem Namen, eben mit „O Vertigo“. „Nur die Geldquelle haben wir von unserem Vorgänger übernommen“, sagt sie lachend. Inzwischen hat die lebensfrohe Frau mitten in Montreal ein festes Haus und ein noch festeres Publikum, das sich auf die alle zwei bis drei Jahre neu herauskommenden Produktionen freut. Ginette Laurin gehört zu den Choreografen, die in den 80er Jahren den zeitgenössischen Tanz in Kanada in Schwung und an die Menschen gebracht hat. „Derzeit hat es die Kunst in Kanada unter einer sehr weit rechts stehenden Regierung etwas schwerer, was die Finanzierung betrifft“, sagt sie. Doch das Geld für die Tourneen, die sie seit Herbst 2010 auch dreimal nach Europa führten, konnten sie offensichtlich zusammengekratzen. Und endlich kann Ginette Laurin auch mit auf Reisen gehen, nachdem ihre drei Söhne erwachsen sind. Sie muss nicht mehr einem Manager die Gastspielbetreuung überlassen, sondern startet selbst neu durch. „Tanz hält jung“, sagt sie. Und man glaubt ihr auf der Stelle.
Sein zu können, wie man wirklich ist: Das ist es, was sie am Tanz fasziniert und um das sie bei langen Proben immer wieder mit den Tänzern ringt. In Improvisationen kitzelt sie sie heraus, die kleinen Schwächen, die kleinen Aussetzer, eben das „Vertigo“ des Einzelnen. „Vieles, was die Tänzer von sich preisgeben, kann ich dann 1:1 in das Stück einfließen lassen.“ Sie will nicht wie im Theater eine Geschichte erzählen, vielmehr kurze Novellen, die aneinandergereiht einem erzählerischen Leitfaden folgen. „Auch in ,Onde de Choc’ gibt es eine eindeutige Entwicklung: Es beginnt sehr lyrisch und endet explosiv.“ Auf Youtube gibt es schon mal einen Vorgeschmack, was das Publikum in der „fabrik“ erwartet. Man sieht, wie die Tänzer ihre Körper weich schwingen lassen, mit den Fingern zerbrechlich wie Schmetterlinge flattern. Dann nehmen die Bewegungen an Rasanz zu, sie werden härter, lauter. Das Blut dringt nach außen. Körper bäumen sich zu einer Schockwelle auf, zu unkontrollierten Bewegungen.
In der „fabrik“-Reihe „Meisterchoreografen“ gastiert am 11. und 12. März, jeweils 20 Uhr, die kanadische Gruppe „O Vertigo“ mit „Onde de Choc“. Eintritt 18 Euro im Vorverkauf/ Abendkasse 20 Euro. Karten unter Tel.: (0331) 24 09 23
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