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Kultur: Traum für einen Sommer

Mit „Kruso“ hat Lutz Seiler seinen ersten Roman geschrieben. Ein großes Buch über die Suche nach Freiheit, das Seiler am Sonntag in Potsdam vorstellt

Stand:

Die Insel, ihr Lieben, hat alles, was ich brauche, immer gesucht habe, bereits wenn sie auftaucht am Horizont, vom Dampfer aus gesehen, ihre schmale zerbrechliche Gestalt, ihr feiner Umriss, im Rücken noch der letzte graue Hahnenkamm des Festlands, Stralsund mit seinen Türmen, das ganze Hinterland mit seinem Dreck, ihr wisst, ihr Lieben, was ich meine, ihr Lieben, die Insel taucht auf und augenblicklich vergesst ihr das alles, denn jetzt liegt sie vor euch, und etwas Neues fängt an, ja, schon da, auf dem Dampfer!“

In den Offenbach-Stuben, einem Weinrestaurant in Halle, hat Edgar Bendler dieses Loblied auf Hiddensee gehört. Einer der Kellner, nur der Historiker genannt, hat es angestimmt und sich in den trüben Wintermonaten mehr selbst als seine unfreiwilligen Zuhörer auf diese Ostseeinsel imaginiert. Jedes Jahr wieder im Frühjahr geht der Historiker, ein grauhaariger Mitvierziger, der freiwillig aus dem Universitätsdienst ausgeschieden sein soll, nach Hiddensee, um sich dort als Saisonkraft zu verdingen. Monate später, Edgar Bendler ist durch eine persönliche Tragödie wie aus seinem bisherigen Leben gerissen, macht er sich auf den Weg nach Hiddensee mit nichts als den Worten des Historikers im Ohr: „...und etwas Neues fängt an.“

Der Roman „Kruso“ erzählt von diesem losgerissenen Edgar Bendler. Von seiner Flucht auf diese Insel mit der Hoffnung, dass sich etwas ändert, dass sich etwas Neues ereignet. Dass der Schmerz, der in ihm wühlt, dass die Leere, die sich in ihm ausbreitet, endlich verschwinden. Edgar, im Buch fast ausschließlich Ed genannt, findet auf Hiddensee Arbeit, eine Gemeinschaft und einen besonderen Freund. Und er findet Abstand. Für Ed wird Hiddensee zu einer Art Traumgebilde, einer Art Zeitensprung, verbunden mit dem Eintritt in eine andere Welt. Ein Spiel mit einer Utopie von Freiheit und Selbstbestimmtheit, in das die Wirklichkeit letztendlich dann doch mit ihrer arglosen Präzision ein- und alles zerschlägt. Lutz Seiler hat „Kruso“ geschrieben. Seiler, Autor von „pech & blende“ und „Felderlatein“, einer der herausragendsten deutschsprachigen Lyriker, der für seine Erzählung „Turksib“ im Jahr 2007 den Bachmann-Preis erhielt. Mit „Kruso“, der dieser Tage erscheint, legt Lutz Seiler, der seit 1999 das Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst leitet, nun seinen ersten Roman vor. Am kommenden Sonntag stellt der 51-Jährige seinen Roman, der auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis steht, in der Villa Quandt vor. Was für ein Buch!

Vor seinem Ausbruch studiert Ed in Halle Literatur, steht kurz vor dem Abschluss und soll eine Arbeit über den expressionistischen Dichter Georg Trakl schreiben. Doch sind all diese Dinge, all die Alltäglichkeiten nur Fixpunkte für Ed, um sein losgerissenes Leben einigermaßen in der Bahn zu halten. Nur Stück für Stück erfährt der Leser, dass Ed seine Freundin G. verloren hat und seit dem keinen Halt mehr finden kann. „Sein Dasein ohne G. – fast war es eine Art Hypnose.“ Mehr unbewusst sucht er nach einer Alternative, nach einer Lösung. Doch da gibt es in der DDR kaum Möglichkeiten, wie er am alkoholkranken Hausmeister des Literaturinstituts sehen kann, der in einer kleinen Hütte im Garten neben der Bibliothek zu leben scheint. „Eines der Gerüchte besagte, der Hausmeister sei habilitiert und ehemals im Ausland tätig gewesen, sogar im ,NSW’, wie es hieß. Jetzt gehört er zur Kaste der Ausgestoßenen, die ihr eigenes Leben lebten, der Garten und die Hütte waren Teil einer anderen Welt.“

Auf Hiddensee, diesem Sehnsuchtsort, findet Ed Arbeit als Abwäscher in der Gaststätte „Der Klausner“. Doch bevor er in diesen Arbeitshöllenkreis eintreten darf, muss Ed auf dem Hinterhof des Klausners, unter der Sommersonne, Zwiebeln um Zwiebeln schneiden, bis alles um ihn in den Tränen verschwimmt. Es ist vor allem diese monotone Arbeit – erst das Zwiebelschälen, dann der Abwasch – die eine kathartische Wirkung auf den 23-Jährigen hat. Und dann ist da Alexander Krusowitsch, Saisonarbeiter wie Ed, vor allem aber eine Art Guru, eine Art Heilsbringer für alle die, die auf der Insel eine Alternative suchen, den Ausbruch in bestimmten Grenzen wagen. Denn wie hatte der Historiker in den Offenbach-Stuben gesagt: „Die Freiheit, ihr Lieben, besteht im Kern darin, im Rahmen existierender Gesetze eigene Gesetze zu erfinden. Objekt und Subjekt der Gesetzgebung zugleich zu sein, das ist ein Hauptzug des Lebens dort oben, im Norden.“

Es sind Schiffbrüchige, die als Saisonkräfte – „Esskass“ – oder als Tagestouristen, auf die Insel gekommen sind. Schiffbrüchige im standardisierten, eingeengten Leben auf dem Festland, dem Leben in der DDR. Hier versuchen sie einen Ausbruch, der im Grunde ein Sichheraushalten ist. „Wer hier ist, hatte das Land verlassen, ohne die Grenzen zu überschreiten.“ Ein Abwarten und Sicheinrichten in diesen Inselkosmos, der selbst wieder eigenen Regeln, eigenen Gesetzen, unterworfen ist. Einer, der diese Regeln und Gesetze mit entworfen hat und für ihre Einhaltung sorgt, ist der charismatische Alexander Krusowitsch, nur Kruso genannt.

Eds Sommer auf Hiddensee ist der Sommer 89. Sein Leben befindet sich im Umbruch, so wie das Leben vieler in der DDR, so wie das ganze Land zum Jahresende selbst. Indem Lutz Seiler seinen Roman „Kruso“ in diese Zeit legt, erzählt er auch von der DDR. Aber wie er das macht! Beiläufig schildert er das Leben in diesen Monaten auf der Insel, Edgars haltlose Zeit in Halle. Und mit dieser Beiläufigkeit, durch seine Figuren, zeichnet Seiler immer klarer, immer deutlicher, das Panorama der Gesellschaft in der DDR. Die Politik tritt in diese Welt nur durch die Anwesenheit der Grenztruppen auf der Insel; und durch das nie verstummende Radio „Viola“ im Klausner, das, auf Deutschlandfunk eingestellt, von den Entwicklungen im Land wie aus einer so fernen und so fremden Welt berichtet. Vieles wirkt in dieser Beiläufigkeit oft dann nur wie ein fernes Echo, wie ein schlechter, jedoch nur flüchtiger Gedanke. Aber weil dies alles Wirklichkeit gewesen ist, wirkt es in „Kruso“ noch viel stärker, intensiver.

Lutz Seiler, der im Sommer 1989 selbst im Klausner als Abwäscher gearbeitet hat, erzählt in „Kruso“ vor allem aber von der Suche nach Freiheit, den Möglichkeiten von Freiheit und letztendlich – weil die Menschen sie dann doch nicht ertragen können – von der Freiheit als Utopie. Es ist Kruso – im Grunde selbst ein Gefangener dieser Insel, auf der er seine Schwester verlor –, der diesen Traum von Freiheit umzusetzen versucht, aber durch sein Charisma, seine starke Persönlichkeit diese Freiheit doch nur wieder beschneidet. Ed folgt ihm fast hörig, hat er Kruso doch dieses neue Leben zu verdanken.

Es gibt viele Anspielungen in „Kruso“. Am offensichtlichsten ist die auf Daniel Defoes Geschichte vom schiffbrüchigen Robinson Crusoe. Lutz Seilers Kruso aber strebt nicht zurück in die Zivilisation und sein Freitag Ed ist auch kein Wilder, der die Vorzüge der Zivilisation kennenlernen soll. Wie die anderen dieser alternativen Inselgemeinschaft auch ist Ed müde von der Zivilisation. Und erst in der Wildnis von Kruso scheint er eine Alternative gefunden zu haben. Aber sie erweist sich dann auch nur als eine Illusion. Eine Illusion, die nur einen Sommer dauert.

Wie Lutz Seiler davon erzählt, mit dieser Sprache, diesem Rhythmus, das macht dieses Buch neben seiner Beiläufigkeit in den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen zu einem Ereignis. Mit seinem ersten Roman „Kruso“, der auch Abenteuergeschichte und Märchen ist, legt der Lyriker Seiler, auch wenn das jetzt etwas platt klingen mag, sein Meisterstück in Sachen Prosa vor. Allein die Szene, in der Seiler seitenlang die Besucherhochzeiten im Klausner und damit verbunden den Stress in Küche und Abwasch und die rasenden Bedienungen beschreibt, ist Literatur als sprachlicher und kompositorischer Hochgenuss. Immer wieder stößt man in diesem Roman auf den Lyriker Seiler wenn man liest „...und die Insel nahm Kurs durch den Nebel seiner ungestillten, grenzenlosen Begierde“ oder „...in der Fahrrinne der Hochseeschiffe und Schwedenfähren, die vorüberzogen, so langsam wie Jahre“. „Kruso“ ist ein Buch voll mit solchen schönen Sätzen, die selbst wirken wie eine Insel, wie ein Traum davon.

Am Ende sitzt Edgar als eine Art Schiffbrüchiger, ein Erwachter vor den Trümmern nicht nur seines Inseltraums. „Eine Weile wusste Ed nicht, ob er begriff. Aber die Stimme Violas war ihm vertraut, und sie half ihm, wieder ruhig zu atmen. Alle Grenzen waren offen. Schon seit Tagen.“ Doch bis dahin erlebt der Leser das seltene Glück eines großen Romans.

Lutz Seiler stellt „Kruso“ am Sonntag, dem 31. August, um 18 Uhr in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47, vor. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 6 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 410

Dirk Becker

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