Kultur: Über Mythen und Realitäten Ostpreußens Eine Ortsbestimmung
bis Nimmersatt
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Mit den „Mythen“ und Realitäten Ostpreußens befasste sich kürzlich ein Podiumsgespräch im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Es ging um eine „Ortsbestimmung“. Eingeladen waren zwei Kenner der Materie. Andreas Kossert, derzeit in Warschau lebend, hat mit Büchern wie „Kalte Heimat“ oder „Ostpreußen – Geschichte und Mythen“ von sich Reden gemacht, Christopher Clark aus Cambridge schrieb mehr über die Hohenzollern, etwa in „Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 - 1947“. Worin sich beide unterschieden, beantwortete Clark so: „Er meint Am Anfang war Ostpreussen“, ich Am Anfang war Brandenburg''". Diese alte Provinz, bis heute zu den besten Fernsehterminen serviert, lebt für Kossert zuerst in seinen Mythen fort. Landschaften, Legenden, Erinnerungen beschäftigten aber nicht nur „Heimwehtouristen“. Eine neue Generation von Polen sei nunmehr bereit, das deutsche Erbe ins polnische Selbstverständnis zu integrieren. Über die „transnationale“ Zukunft Europas ist man sich ja einig.
War „Ostpreußen“ wirklich so, wie man es sehen mochte und möchte? Eigentlich nicht, der Rest Deutschlands wusste in ihm eigentlich immer die äußerste, zurückgebliebene Region, die bis Nimmersatt reichte, letzter Ort vor dem litauisch-russischen Nachbarn. Bis 1873 waren Polnisch, Masurisch, Litauisch, Russisch, Jiddisch und Deutsch mehr oder weniger gleichberechtigte Sprachen, der Grenzhandel blühte, es gab gemeinsame Wurzeln. Mit der Einführung des Deutschen als alleiniger Unterrichtssprache änderte sich das, man begann, „aus Ostpreußen ein deutsches Land zu machen“, wobei den Dorfschullehrern und den protestantischen Pfarrern nach Kossert eine Schlüsselrolle zukam. Die Königsberger Provinz geradezu eine Hochburg des Protestantismus. Wilhelm II. trieb diesen Prozess der Angleichung an die moderne Zeit kräftig voran. Die Nationalsozialisten, sein kolonisatorisches Werk durch „Germanisierung“ vollendend, konnten sich auf den ersten Weltkrieg (Mythos Tannenberg) berufen. Ostpreußen hatte ja den marodierenden Einfall der Russen 1914 nie vergessen. War Hindenburg damals sein Notretter, so stand nun Hitler als Garant gegen die reale bolschewistische Bedrohung. Sicherheit vom abgetrennten Reich zu bekommen, brachte ihm gewaltige Stimmengewinne. Freilich sei Ostpreußen nie „brauner“ als Schleswig-Holstein gewesen. 1944 kam dann kein Helfer mehr. So weit zu den Mythen.
Heute setzt man dort ganz auf Regionalismus. „Wo Deutsche wohnen oder als Heimwehtouristen hinkommen, hat niemand mehr Angst vor ihnen“. Kossert holte in seinem Buch auch die Arbeiterbewegung wieder ins Boot. Die vaterlandslose SPD von Otto Braun („wenn es um Ostpreußen ging, wurde er Patriot“, so Clark) stellte sich zum Beispiel nach dem Versailler Diktat geschlossen hinter Preußen. Der fernste Teil von Deutschland war ja stets sehr liberal zu sich selbst.
Unverkennbar warben beide Autoren für ihr neues Geschichtsbild jenseits des Nationalen. Die Zeit sei „überfällig“, ein von „Nationalismen“ und Ideologien geprägtes Bewusstsein abzulösen: Weg von den „konkurrierenden Opferhierarchien“, die Leiden benennen, ohne sie zu instrumentalisieren, schreiben, „ohne dass gleich das Völkergericht tagt“, fasste Kossert ihr Credo zusammen. Die Frage allerdings bleibt: „Instrumentalisiert“ das transnationale Europa seine Historien denn nicht schon wieder, diesmal bis jenseits von Nimmersatt? Gerold Paul
Gerold PaulD
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