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Von Lena Schneider: Unbeirrt plätschernde Zeit

Tanztage I: „Profit and Loss“ von Martine Pisani und Martin Nachbar

Stand:

Die Horizontale wankt. Für wenige Augenblicke spannt sich zu Anfang eine Schnur über die Bühne – doch kaum glaubte man, darin etwas zu erkennen (eine Wäscheleine? Eine Giebelachse?), da lockert sich die Strippe. Und wie ein Zelt die Form verliert, wenn man die Spannung der Seile löst, so verschiebt sich auch hier die Schnur – und wird bis zum Ende ihre ursprüngliche Form nicht wiederfinden, sondern von dem Künstler und Performer Theo Koojman auf immer neue Arten verwickelt, verstrickt und verknotet werden.

„Kairos“ heißt er, der hier die Fäden, oder besser die Strippe, in Händen hält im Programmheft: Gott der günstigen Gelegenheit. Konzentriert, geradezu stoisch führt dieser Gott die Schnur in immer neuen Linien über die Bühne, hängt einen Besen hinein, einen Holzbalken, macht daraus mal ein Fenster, mal eine Tür, mal ein Fallseil für die dazwischen herumspringenden Tänzer und lässt sich dabei durch nichts ablenken. „Profit and Loss“, so heißt diese kleine Perle des zeitgenössischen Tanzes, will sich mit dem Thema Zeit auseinandersetzen – und so kann wer will im unermüdlichen Wirken dieses „Kairos“ das im Prinzip der unbeirrt voran plätschernden Zeit erkennen, die sich dehnen und verlangsamen aber letztlich vor allem eins kann: Dinge und Menschen fortwährend verändern. Wie die Strippe auf der Bühne den Raum.

Die sechs Tänzer Hermann Heisig, Eduard Mont de Palol, Elise Olhandéguy, Denis Robert, Lola Rubio und Litó Walkey taumeln und stolpern, springen und purzelbaumeln an den Konstruktionen und ihrem Konstrukteur vorbei – zwei Welten, die einander bis kurz vor Schluss nicht berühren. Mit fast religiösem Ernst scheinen die Tänzer Ritualen zu folgen, deren Prinzipien den Zuschauern verborgen bleiben, zerren einander an den Füßen, schmeißen sich zu Boden und stehen wieder auf, schauen sich zwischendrin an, als hätten sie gerade selbst vergessen, warum sie sich so abrackern. Man muss nicht wissen, dass sie dabei fortwährend am „Gott der günstigen Gelegenheit“ vorbeitaumeln, um die clowneske, fast tragische Komik ihrer ziellosen Bewegungen zu erkennen. Für den Rhythmus sorgt dabei Gaëtan Bulourde: ein transparenter Gartenschlauch erzeugt einen Ton wie ein Jagdhorn, ein metallenes Tablett scheppert in die Stille, einen gespannten Bindfaden spielt er wie einen Kontrabass. Ein Poet des (scheinbar) zufälligen Klangs.

„Profit und Loss“ ist die erste gemeinsame Arbeit der Pariser Choreografin Martine Pisani und ihres Berliner Kollegen Martin Nachbar, entstanden im Rahmen einer „Artistic Residence“ in der fabrik. Martine Pisani ist in Potsdam keine Unbekannte, im Frühling 2007 war sie hier bereits schon einmal „Artist in Residence“. Damals hatte sie mit ihrem Stück „Hors Sujet ou le bel ici“ die Reihe „Neue Triebe“ eingeläutet – ein Stück, das mit dem Rhythmus verschiedener Sprachen arbeitete, ein urkomisches, dabei sehr feines Fest des Hier und Jetzt. Auch in „Profit and Loss“ umspielen Pisani und Nachbar das Jetzt – aber sie nähern sich ihm retrospektiv: aus der Perspektive des Schon-Vorbei. In einer Szene etwa laufen drei der Tänzer zwischen Bühnenrampe und einer weißen Flügeltür im Hintergrund vor und zurück, schauen erwartungsvoll ins Publikum, als lauschten sie einem Geräusch hinterher, dann wieder zur Flügeltür – aber wo auch immer sie sich hinwenden, sie sind zu spät dran.

Auch ein wunderbarer Moment: Wenn Hermann Heisig, der auffallendste und in seiner wabernden Gelenkigkeit eindrücklichste der sechs Tänzer, ein Schnippsgeräusch in die Stille macht, dann lauscht, ein paar Schritte geht, in eine andere Richtung schnippst. Dann noch einmal. Die anderen starren gebannt dorthin in die Luft, wo eben das Geräusch erzeugt wurde. Doch wieder ist da nichts, die Luft ist leer, der Moment vergangen. Man kann den Augenblick eben erst einfangen – oder davon „profitieren“ –, wenn er eigentlich schon vorbei, oder eben verloren, ist. Die Linie zwischen Profit und Verlust („Profit and Loss“) ist dünn. Was eben noch ein Dachgiebel war, kann im nächsten Moment schon nurmehr Strippe sein. Dazwischen liegt, genau, nur ein Fingerschnipsen.

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