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Dieses Jahr Gastgeber, aber bald wieder selbst auf der Bühne: Sven Till und Sabine Chwalisz, hier mit Marketing-Chef Laurent Dubost (l.).

© Andreas Klaer

Von Heidi Jäger: Unbequem bleiben

Von der Gutenbergstraße 105 in die Schiffbauergasse: Die „fabrik“ wird 20 und feiert das ganze Jahr

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Es war nicht die Zeit, zimperlich zu sein. Wer etwas wollte, legte los. Lange Angestautes suchte sich Raum. Und der wurde unter großen Mühen umgekrempelt. Wie die verwaiste Brauerei in der Gutenbergstraße 105. Eine kunterbunte Truppe aus 15 Künstlern – Maler, Fotografen, Musiker, Tänzer – entrümpelten sie und ließ darin ihre gesammelte Energie explodieren: oft mit klammen Händen und kalten Füßen. Während die meisten bald wieder in ihr „normales Leben“ zurückkehrten, überlebte der Tanz die Zeiten und feiert nun als „fabrik“ seinen 20. Geburtstag.

Sven Till und Wolfgang Hoffmann, bald unterstützt von dem „Westberlin-Import“ Sabine Chwalisz, blieben hartnäckig. Sie wirbelten nicht nur ihre eigenen Körper auf dem bald eingebauten Schwingboden, sondern holten auch die Welt nach Potsdam. Bereits ein halbes Jahr nach der fabrik-Gründung gab es die 1. Internationalen Tanztage, denn man wollte sehen, wie die Welt außerhalb der einstigen Mauern tanzte und zu welchen Bewegungen der Körper neben Ballett und Volkstanz fähig ist. Und viele Potsdamer fanden den Weg in das besetzte Hinterhaus: Punks platzierten sich neben Rentnern und keiner nahm daran Anstoß. Das ist bis heute so geblieben, während sich die „fabrik“ nach fünf Umzügen und fortwährender „Flickschusterei“ inzwischen räumlich sehr komfortabel etablieren konnte.

Wenn sie ihren Geburtstag in der Schiffbauergasse nunmehr ganzjährig feiern, tun sie das mit Weggefährten, die sie durch diese Provisorien begleiteten. Wie mit dem Tänzer Patrick Scully aus den USA, dessen Trauerstück über abgerissene Nachbarschaften und an Aids verstorbene Freunde 1992 zutiefst aufwühlte und sich ins Gedächtnis ablagerte. Im 20. Jubiläumsjahr der „fabrik“ wird er mit einem Bootsballett auf dem Tiefen See nun auf beschwingteren Wellen reiten.

Bis zu den mit großen Namen gespickten Tanztagen im Mai geben sich an jedem Wochenende die verschiedensten Künstler die Klinke in die Hand: nach dem gefeierten Comedy-Hip-Hop „FhlipFhlop“, das der Ex-Fabrikler Wolfgang Hoffmann produzierte, gibt es am kommenden Wochenende passend zum Frühlingsbeginn den „Spieltrieb“, der in allen Räumen skurril und witzig toben wird. Danach feiern Meisterchoreografen radikale und berührende Hymnen auf Schönheit und Fragilität des Köpers.

Allerdings bekränzen die „fabrik“-Leute den Geburtstagsreigen nicht mit eigenen Blüten. Zu sehr sind sie derzeit damit beschäftigt, das Programm mit Gastspielen, Kursen, Workshops und seit 2006 auch mit Residenzen qualitäts- und ideenreich aufzustellen. „Ich habe als Jurorin allein für das kommende zweite Halbjahr 190 Residenz-Bewerbungen zu sichten. Da bleibt kein zeitlicher Freiraum, um auch als Tänzerin kreativ zu sein“, so Sabine Chwalisz. Doch im nächsten Jahr soll es eine Zäsur geben, ist sie sich mit Sven Till einig. Nicht nur von der eigenen Company wird es dann ein neues und damit das 17. „fabrik“-Stück geben. Auch andere Potsdamer Tänzer sollen verstärkt unter ihrem Dach ein Podium erhalten. Dafür werden die Residenzen etwas zurücktreten. Ohnehin steht ein dickes Fragezeichen hinter diesem Forschungsbereich, den Choreografen und Tänzer aus der ganzen Welt begeistert erkunden. Die Anschubmittel des Bundes laufen Ende des Jahres aus, und ob sie von Stadt und Land aufgefangen werden, steht in den Sternen. 280 000 Euro gab es für die Residenzen im „Tanzplan Deutschland“, davon die Hälfte vom Bund. „Die finanzielle Ausstattung der fabrik war aber nie so, dass wir allen Potenzialen gleichermaßen gerecht werden konnten. Unsere Vision ist ein Tanzhaus, das alles verbindet“, sagt Sven Till.

Als der Franzose Laurent Dubost 2001 zur „fabrik“ stieß, war er oft monatelang allein, weil die anderen tourten, um die dringend benötigten Mittel einzuspielen. In 15 Ländern zeigten die Potsdamer Tänzer ihre Stücke, wurden für „Hopeless Games“, „fallen“ oder „Pandora 88“ bejubelt und mit Preisen gekürt. „Doch es ist gerade für das Marketing wichtig, auf vielen Gleisen zu fahren“, so der PR-Mann Dubost. Und vor allem dürfe der Kontakt zur internationalen Szene nie verloren gehen.

Was ist geblieben von der Euphorie und den sich plötzlich ausbreitenden Möglichkeiten der Wendezeit? Sabine Chwalisz erinnert sich noch an das Chaos, als sie anfangs in der „fabrik“ nur Kurse geben sollte. „Als ich das erste Mal nach Potsdam kam, stand ich allein da: wegen fehlender Werbung kam nicht ein Interessent. Beim zweiten Versuch war es zu eisig in der Halle und beim dritten Mal kam sie sich mit der Abendperformance der US-amerikanischen Entertainerin Gayle Tufts in die Quere. Schließlich gab es nur einen Raum. Doch statt zu schmollen, bot Sabine Chwalisz an, das Zweierteam Hoffmann und Till mit Frauenpower zu verstärken. „In der Berliner Tanzszene war alles bereits saturiert, man zeigte, was gerade ,in’ war. Im ,wilden Osten’ konnte man etwas aufbauen, was Kontinuität versprach und es war völlig unwichtig, ob es der DIN-Norm entsprach. Ich fühlte mich wie in einem anderen Land“. Diese Begeisterung und Neugierde habe sie im Westen nie so erlebt. „Wenn man in der Freiheit aufwächst, und permanent alle Möglichkeiten offen stehen, ist das etwas anderes, als wenn sich etwas so lange anstaut und sich dann eruptiv entlädt.“ Bis heute ist für Sabine Chwalisz der Osten nicht mit dem Westen gleichzusetzen. „Hier gibt es sehr wohl noch das Gespür, wie es damals war, und die Sehnsucht, gestalten zu wollen. Dieses Bewusstsein der Macht, Strukturen verändern zu können, droht zwar im Alltag und in der Bürokratie abhanden zu kommen, aber wir versuchen uns bis heute, immer wieder zu hinterfragen.“ „Möglichst nicht bequem werden“, ist ein wichtige „fabrik“-Maxime.

Gedanken wagen, die nicht linienkonform, aber für eine Gesellschaft unabdingbar sind, dazu sind sie angetreten: Querdenken und dafür Freiräume haben, ist ihr Traum. „In einem städtischen Theater ist das nur begrenzt möglich, denn es hat einen festgeschriebenen Auftrag. Freie Kultur kann und muss andere Ideen vorstellen, weg von Hierarchien. Die fabrik ist dabei ganz persönlich an uns als Künstler gebunden, während die inhaltliche Gewichtung auch immer von der Finanzierung abhängt.“ Dabei werde der Kampf um das Geld immer schwieriger, „die Förderlandschaft war Mitte der 90er Jahre wesentlich besser gestrickt als heute,“ so Sven Till.

Die „fabrik“ mit seinen zwölf Mitarbeitern will jedenfalls wieder selbst mehr tanzen und choreografieren und das Verwalten routiniert eingrenzen. Sie baut keine Luftschlösser, sondern an sicheren Fundamenten. Und die 33 000 Gäste im Vorjahr geben ihnen dabei Rückhalt.

Ab Mai kommt wieder der Biergarten dazu und auch im Sommer ist die „fabrik“ präsent: ein Zirkus-Open-Air mit Künstlern aus Chile statt des Totentanzes vom letzten Jahr. Und eine Geburtstagsparty gibt es natürlich auch: im Oktober. Der genaue Tag steht indes noch nicht fest. Freiraum muss eben sein.

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