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Kultur: Und sah auch nicht einmal zurück Szenische Lesung zu Bieneks Oberschlesien

Gleiwitz: Stadt an der Klobnitz im Re gierungsbezirk Oppeln. Kohlebergbau, Hüttenwerke, ein Kanal, Oberschlesischer Sender, Ende der Reichsautobahn.

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Gleiwitz: Stadt an der Klobnitz im Re gierungsbezirk Oppeln. Kohlebergbau, Hüttenwerke, ein Kanal, Oberschlesischer Sender, Ende der Reichsautobahn. So sagt es ein altes Lexikon. Als der Schriftsteller Host Bienek hier 1930 geboren wurde, hatte sie etwa 115 000 Einwohner, doppelt so viele wie dreißig Jahre zuvor. In der Stadt mit der katholischen Peter-und-Paul-Kirche und den drei Brücken verlebte er seine Kindheit, die er zusammen mit seiner Heimat im fünfzehnten Jahr verlor. Im Oktober “45 sah er „kein einziges Mal zurück“, als er „von den Polen ausgewiesen“ wurde.

Er suchte sie in Berlin und Potsdam, sogar in Workuta, wohin ihn der NKWD 1952 wegen „US-Spionage“ auf 25 Jahre verbannte. Nach zweien kam er frei, ging in den Westen. Die Sehnsucht nach seiner „Provinz“, dem Schwarzen Land, hielt ihm ein Leben die Treue. Von 1972 bis 1982 schrieb er die berühmte Gleiwitz-Tetralogie, die alles Erinnern zwischen 1939 und 1945 ohne einen Anflug von Bitterkeit aufarbeitete, was ihm die „echten“ Vertriebenen bei seinen Lesungen höchst verübelten. Östlich der Elbe war dies sowieso kein Thema. Bienek war ein Poet der Bilder, Lyriker seines Wortes.

Im Rahmen des Themenschwerpunktes „Oberschlesien“ stellten Oskar Ansull und der Jazz-Klarinettist Theo Jörgensmann diesen Autor im Kutschstall über zwei kompakte Stunden ganz aus seinem geschriebenen Wort vor. Als Teil des Begleitprogramms zur einschlägigen Ausstellung konzipiert, traten das Haus der Brandenburgisch Preußischen Geschichte und das Kulturforum östliches Europa am Mittwoch gemeinsam als Veranstalter auf. Die Besuchehrzahl lag unter zwanzig, schade, die so sinnliche wie lyrische „Schreibe“ dieses Autors vermittelte mehr über diese „auf immer verlorene“ Provinz als ein Dutzend Geschichtsbücher. Mit zwei Stühlen und vier Notenständern für die Texte war es der „szenischen Einrichtung“ im Vortragsraum genug. Man wandelte zwischen ihnen, tauschte die Plätze. Die ziemliche Länge war sicher der übergroßen Zuneigung des Vortragenden zum Autor geschuldet, doch tat er seine Sache gut. Der Klarinettist gab einiges zwischen Jazz und Klezmer dazu.

Ausgewählt wurden Band eins, „Erste Polka“ (1972-76) betitelt, sowie das „Arbeitsbuch“ zur Tetralogie. Er beschreibt mit ungeheure Dichte den Tag vom 31. August zum Kriegsbeginn am 1. September 1939, als „der Fall Gleiwitz“ am örtlichen Sender geschah. Die zentrale Figur ist Georg Montag, Halbjude mit katholischer Konversion, ortsbekannter Jurist, der immer „dazugehören“ wollte, aber den Arier-Nachweis nicht mehr erbringen konnte. So holte ihn seine Herkunft zurück. Eine Kunstfigur mit vielen autobiographischen Bezügen – ein Stück Kindheit für Horst Bienek im geliebten Gleiwitz, nur sechzig Kilometer vor Auschwitz. Irgendwann schwamm die erste Leiche eines „Gestreiften“ in der Klobnitz, später trieben Wachleute Häftlinge durch die Stadt, bevor die Russen kamen. Erinnern war ihm wie ein „überbelichteter Film“ – an die schlesischen Birken, an Vogelbeerbaum und zahllose Königskerzen, dazwischen „ein Lächeln, man weiß nicht von wem“, ein Schrei. So einem wachsen die „Bilder aus Rauch und Traum und Flamme“, denn seine Heimat verliert man ja nicht, auch wenn sie nun andern gehört. Sie stirbt erst mit einem selbst. Aufgeregt wie ein Kind, sah Bienek dann Gleiwitz wieder, zwei Jahre vor seinem Tod, 1990. Alles erfüllt sich durch Ausgleich: hier war es der unterlassene Rück-Blick von einst. Gerold Paul

Gerold Paul

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