
© Edition Salzgeber
Kultur: Unter jedem Grabstein eine Geschichte
Am morgigen Mittwoch wird das 17. Jüdische Filmfestival im Potsdamer Filmmuseum eröffnet
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Die ersten Bilder irritieren. Immer wieder treten andere Menschen vor die Kamera und erzählen von ihrer Beziehung zu dem Friedhof. Ganz allmählich bekommen ihre häppchenweise gereichten Geschichten Konturen, verdichten sich zu schaurig-schönen Familienbiografien. Es ist wie das Erobern eines unbekannten Terrains. Erst beim intensiven Eintauchen enthüllen sich die magischen Momente, fügen sich lose Fäden zu einem dichten Gewebe zusammen. Die Regisseurin Britta Wauer schlägt ganz leise ihre Schneisen in das Dickicht des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee.
In ihrem Dokumentarfilm „Im Himmel, unter der Erde“, mit dem am morgigen Mittwoch das Jüdische Filmfestival Berlin & Potsdam im Filmmuseum eröffnet wird, bewies sie gutes Augenmaß. Natürlich konnte sie in 90 Minuten nicht 115 000 Verstorbenen mit ihren Schicksalen gerecht werden. Doch sie brachte die von hohen Bäumen beschatteten und von Efeu überwucherten Grabstelen zum Reden, in dem sie sich auf wenige Schicksale beschränkte. Sie ließ die heute in der ganzen Welt verstreuten Nachfahren über ihre Verbindung zu den Toten erzählen. Dabei fließen auch mal Tränen, wenn der aus Atlanta angereiste Baruch Bernhard Epstein an das Grab seiner Großmutter Helene tritt und von seiner Trauer übermannt wird. Aber der bild- und sinnkräftige Film ist bei aller anrührenden Tragik, die immer wieder zum Holocaust führt, auch eine heiter-nachdenkliche Hommage an das einst pralle jüdische Leben in Berlin. Er erinnert auch an den überschwänglichen Patriotismus der Juden, die begeistert für Volk und Vaterland in den Ersten Weltkrieg zogen. „Im Himmel, unter der Erde“ ist ein ganz persönlicher Film und das liegt zuallererst an den gut ausgewählten Protagonisten. Wie Harry Kindermann, der 1927 in Berlin zur Welt kam und fast seine ganze Kindheit auf dem Friedhof verbrachte. Lachen konnte er nur bei den Toten, denn in Freibädern, Kinos oder Parks war er unerwünscht. Auf diesem riesigen Friedhof brachte ihm sein Vater das Autofahren bei. Mit 14 verliebte er sich dort in die blonde gleichaltrige Marion, bevor sie nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Heute trägt Harry Kindermanns Tochter ihren Namen weiter.
Mit viel Witz und etwas Chuzpe erzählt Rabbiner William Wolff über die protzigen Totenpaläste, die es neben den unzähligen schlichten Steinen auch auf dem Friedhof gibt und die mit dem Judentum eigentlich nichts zu tun hätten, wo im Tod doch alle gleich sein sollen.
Nicht nur die Zeitzeugen schüren Spannung, begeistert schaut man auch in die urwaldähnliche Natur dieses größten jüdischen Friedhofs in Europa, auf dem noch immer Beisetzungen stattfinden. Selbst die Nazis verschonten dieses Areal, das so groß wie 86 Fußballfelder ist. „Sie sahen den Friedhof wohl in einem Aberglauben eingebettet, dachten, da geht ein Golem um und nichts ist koscher“, mutmaßt Harry Kindermann.
Ohne einen Schritt hinein gesetzt zu haben, schafft es dieser mit historischen Aufnahmen angereicherte Film, dass der Zuschauer sich selbst wie ein Spaziergänger fühlt und Lust bekommt, über die verwitterten Inschriften zu streichen und einen Stein auf die Stelen zu legen.
Es ist das erste Mal in der 17-jährigen Geschichte des Festivals, dass die Eröffnung in Potsdam stattfindet, was natürlich auch dem „Jahr des Films“ geschuldet sei, wie Sachiko Schmidt, Pressesprecher des Filmmuseums, sagt. Mit „Im Himmel, unter der Erde“, dem Publikumsliebling der Berlinale 2011, dürfte ein gelungener Auftakt garantiert sein, zumal es nach der Aufführung ein Gespräch der Regisseurin mit Knut Elstermann gibt, dessen Buch „Gerdas Schweigen“ Britta Wauer zuvor verfilmte.
Auch der zweite Festivalabend öffnet einen neuen Blick auf verborgene Geschichte. So wie der Efeu die Gräber der toten Juden unter sich begrub, ließen die DDR-Ideologen trotz verordnetem Antifaschismus auch von den Lebenden kaum etwas an die Öffentlichkeit dringen, obwohl es 13 Gemeinden gab. Wie lebten die Juden in der DDR? Wie haben sie gefeiert? In den DEFA-Spielfilmen wurde meist nur die Zeit des Nationalsozialismus reflektiert, gezeigt, wie jüdische Männer, Frauen und Kinder am Ende in den Zug stiegen, der sie in die Gaskammern fuhr. Und mit den Zügen sind die Menschen den Blicken entschwunden. Elke Schieber, ehemalige Leiterin des Filmmuseums-Archivs, setzte sich jahrzehntelang mit jüdischem Leben in DEFA-Filmen auseinander. An dem Festivalabend „Tangenten – Bilder vom Unsichtbaren“ am Donnerstag wird die Filmwissenschaftlerin das wenige, was es auszugraben gab, zeigen, darunter nie veröffentlichtes Archivmaterial, wie Zeitzeugengespräche aus den 70er Jahren mit Bewohnern des Berliner Scheunenviertels. Auch Peter Rochers 1988 gedrehter Film „Singen im Dom zu Magdeburg“ ist zu sehen, der berichtet, wie ein Kantor acht Jahre lang jede Woche aus Westberlin nach Magdeburg fuhr, um dort mit Chorsängern zu proben.
Eine ganze Gruppe sangesfreudiger Kantoren bestimmt den amerikanischen Dokumentarfilm „100 Voices: A Journey Home“, der von der Spurensuche der Kirchenmänner in Polen im Jahr 2010 erzählt und vor allem mit seiner Musik begeistert. Ein Film, den das Abraham Geiger Kolleg der Universität Potsdam für das Festival ortete und ihn dort am Donnerstag vorstellen wird.
Zu einer Begegnung von Literatur und Film kommt es nach dem samstäglichen freien Tag zum Sabbat bei der Sonntags-Matinee. Mit Thomas Braschs Film „Der Passagier: Welcome to Germany“ gelinge eine tolle Wiederentdeckung, wie Sachiko Schmidt betont. Dieser 1988 gedrehte Streifen mit Tony Curtis und Katharina Thalbach in den Hauptrollen erzählt auch die eigene Geschichte Braschs, Sohn deutsch-jüdischer Kommunisten. Die einstige Lebensgefährtin des 2001 verstorbenen Künstlers, Katharina Thalbach, liest nach der Filmaufführung Texte von Brasch.
Bevor das Festival weiter in die Hauptstadt reist, gibt es am Sonntagabend im Hans Otto Theater eine Gala mit den Festival-Botschaftern Iris Berben und Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Auch dort hat neben Reden der Film das Sagen. In der viel diskutierten BBC-Dokumentation „Wagner & Me“ ergründet der beliebte britische Schauspieler, Moderator und Autor Stephen Fry seine Leidenschaft zur Musik Richard Wagners. Obwohl Fry jüdisch ist und Mitglieder seiner Familie im Holocaust ermordet wurden, liebt er die Musik über alle Maßen – wohl wissend, dass auch Adolf Hitler diesen Komponisten verehrte.
Mit dem Festival wird zu einer weiten Reise eingeladen: In den Himmel, unter die Erde, aber auch quicklebendig von Europa bis Amerika.
Karten für die Veranstaltungen im Filmmuseum unter Tel. (0331)2718112, für die Gala im HOT unter Tel. (0331)98118
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