
© Andreas Klaer
Von Philiipp Kühl: Unterwegs mit der Jazz-Guerilla
Mit einer ungewöhnlichen Aktion startete gestern das Potsdamer Jazzfestival
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Bahnhofspassagen Potsdam, kurz nach acht Uhr am Morgen, Eingang-Süd: Die Rolltreppe schaufelt im matten Glanze des Neonlichts die Werktätigen in Richtung Bahngleise. Grau schimmert es an diesem Morgen durch die Fensterfront des Potsdamer Hauptbahnhofes. Irgendwo zwischen dem Reisezentrum der Deutschen Bahn und einem Blumenladen tut sich dagegen etwas Ungewöhnliches.
Zwei Männer und eine Dame postieren sich mit Gitarre, Kontrabass und einem kleinen Schlagzeug bewaffnet am Rande der Rolltreppen. In ihren stilsicheren 20er Jahre-Anzügen wirken sie in dem künstlichen Betonpalast wie in eine fremde Szenerie verpflanzt. Schnell werden noch die Instrumente gestimmt und schon erklingt der fröhliche Morgenswing des Potsdamer Mückenheimer Trios.
Viele Passanten können es kaum glauben. Live-Musik im Bahnhof? Zu dieser unwirtlichen Uhrzeit? Euphorisiert werden Handys gezückt und Bekannte kontaktiert, um sie an der Atmosphäre teilhaben zu lassen. Vielleicht ist die Aktion ja eine Entschuldigung der Berliner Verkehrsbetriebe für das Chaos der letzten Wochen?
Mittendrin in diesem Treiben von Musik und Schaulustigen stehen die beiden „Anstifter“ dieser Aktion und verteilen Flyer. Doch es sind keine Entschuldigungsgutscheine, die Bianka Peetz-Mühlstein vom Potsdamer Kulturamt und Ingo Bröcker-Wätzel unter das interessierte Volk mischen. Es ist die Ankündigung für das alljährliche Potsdamer Jazzfestival, das am gestrigen Donnerstag mit dem Konzert in den Bahnhofpassagen eröffnet wurde und bis zum Sonntag dauern wird.
Die Idee zum ungewöhnlichen Auftakt des Festivals mit einem so getauften „Jazzshuttle“ durch die Stadt zu fahren und an möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Orten die kommenden Jazz- Tage mit kleinen Konzerten zu bewerben, stammt von Ingo Bröcker-Wätzel. „Ein breites Publikum zu erreichen ist uns dabei vor allem wichtig“, sagt Bröcker-Wätzel, der im Rahmen des Festivals außerdem die Konzerte im Waschhaus betreut. Nach einer halben Stunde sind bereits alle Flyer weg. Der kurzweilig-groovende Jazz und Swing des Mückenheimer Trios hat Spaß gemacht. Der Bäcker von gegenüber wirkt fast schon etwas traurig, als die Musiker ihre Instrumente verpacken. So ein Kaffeegeschäft wie durch die Musiker beeinflusst, gibt es sonst wahrscheinlich nur an einem Sonntagnachmittag. Doch die Jazz-Guerillas müssen weiter. Insgesamt stehen neun ungewöhnliche Spielorte, verteilt über die ganze Stadt, auf dem Programm.
Als nächstes steht die Paga, also die Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitsuchende auf dem Programm und Gitarrist Olaf Mücke scherzt: „So, jetzt machen wir hier mal Werbung für die Umschulung zum Berufsmusiker“. Das musikalische Interesse der Vorbeikommenden hält sich jedoch sichtlich in Grenzen. Vereinzelt bleiben Leute stehen und rauchen eine Zigarette, während sie das Treiben der Musiker beobachten. Mehr Enthusiasmus hatte aber auch niemand wirklich erwartet. „Viel Spaß euch noch“, ruft ein Mann und verschwindet auf dem Amt. „Viel Glück dir“, schallt es von der Band zurück. Die Stimmung ist gut. Auf dem Weg zur nächsten Station, dem Unternehmenssitz der Stadtwerke, werden im Bus noch schnell die skurrilsten Arbeitsamt-Anekdoten zum Besten gegeben.
Der großzügige, lichtdurchflutete Firmentempel der „Energie und Wasser GmbH“ ist dann vorläufiger Höhepunkt der Jazz-Tour. Mückenheimer Bassist Volkmar Große schwärmt nach dem Auftritt vom „Circus Maximus“. Das dreistöckige Bürogebäude, mit einer großen Freifläche in der Mitte, erinnert in der Tat an eine Arena. Nur statt Wagenrennen gibt es Jazz. Auf den Balustraden haben sich die Mitarbeiter versammelt. Wer im Büro bleiben muss, hat wenigstens die Türen geöffnet. Am Ende wird sogar eine Zugabe gefordert. Derweil schiebt das Pflegepersonal im Klinikum Ernst von Bergmann die Kranken und Bedürftigen durch das Foyer. Als der Jazz- Tross zur Mittagszeit im Krankenhaus ankommt, ist die Stimmung leicht gedrückt. Darf man in einem Klinikum eigentlich ausgelassen und fröhlich sein, während draußen und drinnen geweint wird?
Man darf! Denn schließlich liegen Glück und Leid im Leben immer dicht beieinander. „Wenn die Potsdamer nicht zum Jazz kommen, kommt der Jazz zu ihnen“, hat Initiator Ingo Bröcker-Wätzel die Philosophie des Jazz-Shuttles auf den Punkt gebracht. Nirgends trifft das mehr zu, als an diesem Ort. Die Aktion ist ein großer Erfolg und stößt überall auf positive Resonanz. Radio 1 sowie das betreute Wohnen in der Zeppelinstraße sind weitere Stationen an diesem Tag. Wahrscheinlich würde der Jazz-Shuttle sogar weiter bis zum Mond fahren, aber man muss ja sein ganzes Pulver nicht gleich im ersten Jahr verschießen.
Weitere Informationen zu den zahlreichen Konzerten bis einschließlich Sonntag unter www.potsdamer-jazzfestival.de
Philiipp Kühl
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