Kultur: Vergessen
Historiker Meinhard Stark über die Gulag-Kinder
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Sie gehören zu den vergessenen Opfern des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion: die Kinder deutscher Kommunisten. Exilanten mithin, die in den 30er-Jahren in Moskau ein neues Leben anfangen wollten, jedoch im Zuge stalinistischer Politik der Spionage bezichtigt und als Staatsfeinde jahrelang in die sowjetischen Straflager, die berüchtigten Gulags, gesperrt wurden. Zehntausende ihrer Kinder kamen dort unter widrigsten Bedingungen zur Welt. Getrennt von ihren Eltern und völlig unzureichend versorgt, mussten sie ihre ersten Lebensjahre in „Kinderbaracken“ verbringen und anschließend, nachdem ihre Eltern aus dem Gulag entlassen worden waren, oft noch mit ihnen in der russischen Verbannung vegetieren. Auch Irina Pardemann hatte solch eine traumatische Kindheit. 1949 in Kasachstan, in dem Verbannungsort ihrer Eltern, geboren, hat sie dort bis zu deren Freilassung im Jahr 1958 gelebt, bevor sie in die DDR ausreisen konnte. Zusammen mit dem Historiker Meinhard Stark sprach sie am Mittwochabend in der Villa Schöningen über dieses düstere Kapitel deutscher und russischer Geschichte.
Meinhard Stark, der bereits seit 25 Jahren die Geschichte des sowjetischen Gulag-Systems erforscht, hat für sein aktuelles Buch „Gulag-Kinder“ (Metropol Verlag, 24 Euro) mehr als 100 Zeitzeugen befragt und diesen vergessenen Opfern somit eine Stimme gegeben. In seinem Vortrag betont er an diesem Abend die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die alle Kinder nach der Verhaftung ihrer Eltern ergriffen habe. Dies sei für sie eine extreme psychische Belastung gewesen, der sie keine geeignete Bewältigungsstrategie entgegensetzen konnten, hält der Berliner Historiker fest und fügt an, dass nicht nur die Zerstörung der Familie, sondern auch die gesellschaftliche Ächtung für die Kinder unerklärbar gewesen sei. Schmerzhafte Erfahrungen, wie sie auch Irina Pardemann als kleines Mädchen gemacht hat und nicht mehr vergessen kann. So als sie mit leiser Stimme vom Hass der Russen gegenüber den deutschen Verbannten erzählt und sich daran erinnert, wie ihr jüngerer Bruder einmal halbtotgeprügelt nach Hause gebracht wurde. Doch auch später, in der DDR, sei sie ausgegrenzt worden. Nun wiederum als Russin beschimpft, habe sie sehr schnell die deutsche Sprache erlernt und immer gehofft, nicht nach ihrer Herkunft gefragt zu werden, sagt Irina Pardemann.
Es sind Erfahrungen, die sich auf das weitere Leben auswirkten, wie auch das von Stark produzierte Radio-Feature „Sippenhaft. Die Kinder der Stalin-Opfer“ deutlich macht, welches er den Gästen vorspielte. Mehrere Gulag-Kinder berichten darin von ständig wiederkehrenden Albträumen, von Aggressionen, von Gefühlen der Furcht, des Hungers, aber auch vom Verschweigen und der Scham. Nicht nur Familien seien in den Gulags zerstört worden, sondern ganze Identitäten, sagt Stark, der vor allem die Härte der sowjetischen Behörden gegenüber Kindern einfach nicht nachvollziehen kann und noch mehrere Einzelfälle beschreibt.
So sind es diese menschlich bewegenden Geschichten der Opfer, die der Historiker dem Vergessen entreißen will und die ihn einst motiviert haben, sich so intensiv mit der Gulag-Thematik zu beschäftigen. Seine Forschungen liefern zweifelsohne wertvolle Annäherungen und besitzen, vor dem Hintergrund einer hierzulande salonfähig gewordenen Ostalgie und des Wiedererstarkens des Stalin-Kultes in Russland, zudem höchste Aktualität. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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