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VERHÜLLUNGEN: „Verhüllt um zu verführen“

Die Welt dreht sich um die Orange in einem liebevoll gestalteten Buch des Potsdamer „vacat-verlags“

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Die Welt der Orangenpapiere ist kurios und voller Überraschungen: Eva verführt Adam mit einer Orange. Hermes, der Götterbote, bringt Zitrusfrüchte und selbst unser heimisches Rotkäppchen trägt einen Korb voller Orangen. Von Bild zu Bild steigt die Belustigung des Betrachters. Da reitet Till Eulenspiegel auf einer Orange. Ein Orangenmännchen tanzt Foxtrott. Ein Känguru zieht eine Zitrone aus dem Bauchbeutel. Eine Orange umkreist als Sputnik die Erde. Sehr lang ist die Liste der Themen. „Es gibt wohl keinen Bereich des Lebens, der nicht seinen Niederschlag auf den Orangenpapieren gefunden hätte“, schreibt Dirik von Oettingen in seinem jüngst im Potsdamer vacat verlag erschienenen Buch mit dem schönen Titel: „Verhüllt um zu verführen“.

Der promovierte Volkswirt hat eine kleine Nebensache, die meistens gleich nach dem Auswickeln weggeschmissen wird, zu seiner großen Leidenschaft erkoren. Inzwischen besitzt er eine Sammlung mit rund 40 000 Exponaten aus aller Welt. Rund 500 davon präsentiert der informative und liebevoll ausgestattete Band auf 128 Seiten in doppeltem Dünnpapier. In der Welt der Orangenpapiere existiert nichts, was nicht zu unserer Welt gehört. Aber an die Stelle der Sonne ist die Orange getreten. Alles dreht sich um die Apfelsine – ein unverhüllter Orangenzentrismus im Dienst der Werbung.

Ursprünglich sollten die Seidenpapiere vor Fäulnis und Ansteckung schützen, meist trugen sie die Insignien der Produzenten. Dann warben sie immer stärker für das eigene Produkt. Verblüffend ist die Vielfalt an Themen und Stilen: Sportler und Filmstars, Märchen- und Comicfiguren, Entdecker und Erfinder, Madonnen und Heilige und immer wieder Kinder aller Altersstufen. Alles, was positive Gefühle, Bewunderung, Verehrung auslösen kann, diente den propagandistischen Zwecken. Aber auch schlichte Motive wie Blumen, Tiere, Landschaften finden sich. Meistens geht es farbenfroh und anschaulich zu, gerne wird auf beliebte Gestalten wie Micky Maus, Struwwelpeter, Supermann oder Charlie Chaplin zurückgegriffen. Bei den Verführungsversuchen stehen Humor, Farben und Fantasie an erster Stelle. Doch manch ein Produzent setzt auf die Attraktivität von Wissen und bildet Vögel, Fahrzeuge, Erfinder und Entdecker in enzyklopädischer Manier ab. Waren die Exporte nach Deutschland bestimmt, gab es sogar deutsche Inschriften. Auch die Texte bezeugen poetischen Erfindungsreichtum. Das reicht von der schlichten Behauptung: „Süss wie Küsse – es sind die Besten.“ bis zu frechen Versen wie: „Diese Apfelsinen! Diese herrliche Frucht! Jagt Siechtum und Ärzte in die Flucht!“

Nur selten verwendeten die Gestalter rein abstrakte, ornamentale Muster, wie auf einigen frühen sizilianischen Papieren. Selbst die Drucktechniken unterschieden sich voneinander, schreibt Dirik von Oettingen. Nur in Spanien wurde die Lithographie eingesetzt und damit regelrechte kleine Kunstwerke geschaffen. Leider sei diese Blüte mit dem Sieg Francos zum Erliegen gekommen. Die meisten „Künstler“, wie von Oettingen die spanischen Gestalter bewusst nennt, waren Republikaner und verließen ihr Land. Bis heute hätten die spanischen Orangenpapiere nicht wieder das Vorkriegsniveau erreicht.

Bei näherer Betrachtung erzählen die Orangenpapiere viele Geschichten von Handel und Wandel einer bestimmten Zeit. Weit über den eigentlichen profanen Zweck hinaus haben ihre unbekannten Gestalter damit ein Stück Kulturgeschichte geschrieben.

Am morgigen Sonntag um 11.30 Uhr Lesung und Buchpräsentation mit Dirik von Oettingen in der Galerie Mutter Fourage, Berlin-Wannsee, Chausseestraße 15a. Dazu läuft eine Ausstellung mit 400 Originalorangenpapieren sowie mit Werken von 19 Berliner und Potsdamer Künstlern, die zeitgenössische Antworten zum Thema geben.

Dirik von Oettingen: Verhüllt um zu verführen, vacat verlag, 28 €.

Besonders die spanischen Papiere beeindrucken, wie das frühe Dampfschiff, noch mit Segelmast, oder auch die frühen sizilianischen

Ornamente. Auch aus Ägypten gibt es Papier zu bestaunen, mit dem die Zitrusfrüchte auf

Reisen gingen.

Babette Kaiserkern

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