Kultur: Verloren im Nadelwald
„Das Talent wird in die Gosse getreten, bis es erstickt“ hatte im „nachtboulevard“ der Reithalle Premiere
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Tannenbäume. Angetrocknete, bräunliche, nadelnde Tannenbäume. Kreuz und quer ineinander verkeilt bilden sie einen bizarren Haufen, auf deren Spitze ein besonders kleines Tannenbaumgerippe thront. Stolz und aufrecht sticht es hervor, bemüht, seine letzte Würde so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Gelingen tut ihm das kaum. Denn trotz aller Bemühungen ist er vor allem eines: vollkommen verloren. Ein Motiv, das sich durch „Das Talent wird in die Gosse getreten, bis es erstickt“ von Katrin Haneder und Sebastian Sommerfeld wie ein roter Faden zieht. Und ein Motiv, das letztendlich auch das Stück, das am vergangenen Freitag im „nachtboulevard“ des Hans Otto Theaters Premiere hatte, selbst beschreibt: Es verliert sich in seiner eigenen Inszenierung.
In einer szenischen Lesung wird das Gespräch zwischen Bruder (Sebastian Sommerfeld) und Schwester (Katrin Haneder) wiedergeben. Beide sind schon alt, sie reflektiert ihr Leben. Im Zweiten Weltkrieg geboren, aufgewachsen in der DDR, lebt sie nach dem frühen Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter zusammen. Sie erzählt von ihrer schulischen Laufbahn, von Klassenfahrten nach Annaberg-Bucholz, von ihrem Beruf als Stenografin, bis hin zum Alltagsleben in Potsdam. Der Bruder sagt nur wenig, ist mehr oder weniger nur Kommentator. Leise wird angedeutet, dass die beiden nicht zusammen aufgewachsen sind. Er lebte im Westen. Erst als sie 1988 mit ihrer Mutter einmal nach Westberlin fährt, lernen sie sich richtig kennen. Was ein eher eintöniges Leben, das sie schildert. Keine starken Erschütterungen, kein Aufbegehren, keine große Liebe. Dafür eine Mutter, die immer präsent ist. Eine Mutter, mit der sie ihr ganzes Leben verbringt und die es vielleicht auch ist, die ihre freie Entfaltung unterdrückt, wie es im Titel angedeutet wird.
Doch so richtig sicher ist man sich nicht. Was genau ist dieses Talent, „das in die Gosse getreten wird, bis es erstickt“? Intelligenz, Ambition, Lebensfreude? Es ist schwer zu erkennen. Zu alltäglich, zu allgemein sind die Erlebnisse, die erzählt werden. Da erschließt sich der zweite Titel des Stückes „Instant II – hermesgehtdurchdenraum“ schon eher. Denn das ist die zweite Ebene des Stücks: Der griechische Mythos von Orpheus, der seine Eurydike aus dem Reich der Toten befreien will – und dabei auf die Hilfe des Götterboten Hermes angewiesen ist. Wie ein Hermes begleitet der Bruder seine Schwester auf ihren letzten Schritten am Ende ihres Lebens. Und wie er dabei durch den Raum geht! Nicht wortwörtlich, er sitzt ja auf seinem Stuhl, aber im übertragenen Sinne. Er hat nur wenig Text, doch die Stimme von Sommerfeld hallt lange nach, so intensiv ist sie. Der ganze Körper strahlt eine so ungezwungene Präsenz aus, dass man ganz und gar darin gefangen ist. Sein Blick, stets konzentriert auf die Gesprächspartnerin gerichtet, scheint alles zu durchleuchten, jede Regung zu durchschauen und durch jeden Zuschauerkopf zu wandern.
Er wirkt dabei wie das perfekte Gegenstück zu seiner Schwester, die wie ihr mythologisches Vorbild Eurydike nur noch halb lebendig, geführt werden muss. Und Katrin Haneder spielt wunderbar entrückt. Sie spricht überbetont, abgehackt, oft eher fragend als erzählend. Ihre ganze Haltung ist angespannt, der Blick oft suchend in das Publikum gerichtet. Als würde sie tatsächlich, hier auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, ihren Orpheus suchen, den sie im Leben nie gefunden hat. Die Intensität der beiden Darsteller funktioniert – einzeln und im Zusammenspiel hervorragend, ändert aber leider nichts daran, dass der Inhalt des Stückes auf der Strecke bleibt.
Man bleibt stets in der Erwartung, der große Moment käme gleich. Gleich würde sich der Schleier lüften und die einzelnen Bilder würden sich zu einen großem, einem übergeordneten Moment zusammenfügen. Aber nichts passiert. Da hilft es auch nicht, dass der Chor der Volkssolidarität ganz wunderbar diverse Volkslieder zum Besten gibt oder eine Leinwand in Zeitlupenaufnahmen einen Adler zeigt, der sich auf die Jagd vorbereitet. Auch der großartig inszenierte Bruch zwischen dem Alter der Protagonistin und dem jugendlich-peppigen Kostüm mit schwarz-weiß gestreiften Plateaupumps verläuft irgendwie ins Leere. Selbst der wunderbare Einstieg mit Rilkes Gedicht „Orpheus.Erydike.Hermes“, der so viel verspricht, kann das Stück nicht retten.
Denn so schön die Bezüge zum Orpheus Mythos, mit Gesang, Traurigkeit und Lebenserinnerungen, auch sind, sie reichen nicht aus, um dem Stück Leben einzuhauchen. Um beim Zuschauer etwas zurückzulassen, was ihn nachhaltig begleitet, ihn berührt oder aufrüttelt. So bleibt er verloren zurück. Genauso verloren wie Eurydike und das Tannenbaumgerippe inmitten des in sich verwirrten hoch aufgetürmten Haufens.
„Das Talent wird in die Gosse getreten, bis es erstickt“ ist noch einmal am 21. Juni um 20 Uhr in der Reithalle, Schiffbauergasse 11, zu sehen, Karten kosten 11 Euro
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