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Kultur: Versunken in morschen Dielen oder im Rausch

Otto Kantel organisierte 15 Jahre das Tourneetheater: Es verwandelte Gasthäuser in Bühnen

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Er war der Reiseleiter. Kein leichtes Unterfangen bei einer Meute wildgewordener Schauspieler. Doch einer musste schließlich die Übersicht behalten. Otto Kantel war gerade mal 24 Jahre alt, als er 1953 ans Hans Otto Theater kam. Aus der Not heraus. Viel lieber hätter er weiter bei seinem Vater in der Speditionsfirma gearbeitet. Doch die wurde zwangskollektiviert. Otto Kantel kannte sich mit Maschinen bestens aus, wusste auch den alten Mercedesbus des Tourneetheaters am Laufen zu halten. Er setzte sich ans Lenkrad und fuhr die muntere 25-köpfige Truppe, die damals eine eigenständige Sparte bildete, aufs Dorf. Eine Panne war bei den abgefahrenen Reifen fast immer vorprogrammiert. Für zwei Monate bezog das fahrende Volk mit neuem Stück im Gepäck „festes“ Quartier. Sie schlugen ihre Zelte in Neuruppin, Angermünde oder Wittenberge auf und fuhren von dort sternförmig in 60 Gemeinden, um Oper, Schauspiel oder Operette ans kulturhungrige Volk zu bringen. Schon zwei Monate zuvor machte Otto Kantel vor Ort die Unterkünfte und Säle fest, denn Telefone gab es nicht. Dem „Ortsvertreter“ drückte er Plakate und Karten in die Hand, so dass die Komödianten rechtzeitig in aller Munde waren. Und die Säle wurden proppevoll, denn die Konkurrenz des Fernsehens war in weiter Ferne. Die Wirtshäuser galten als Kulturhochburg, in der man aber auch tief fallen konnte. Wie in Treuenbietzen, als plötzlich eine Tänzerin verschwunden war. „Sie steckte in den morschen Dielen und guckte nur noch mit dem Kopf heraus.“

War ein Stück nach zwei Monaten abgespielt, ging es wieder nach Hause, um nach vier Wochen Probezeit erneut loszuziehen. Da es zwei Tournee-Ensembles gab, die zu unterschiedlichen Zeiten probten, entstand für die Zuschauer im weiten Brandenburger Land nie eine Theaterpause. Doch die Schauspieler, Sänger und Musiker bekamen im Laufe der Spielwochen einen Tourneekoller, „schließlich hatte man ja immer die selben Nasen um sich, mit denen man auch den ganzen spielfreien Tag füllen musste.“ Im Sommer ging man baden, doch im Winter saßen sie meist nur in Kneipen herum. Zwei Mal musste Otto Kantel eine Vorstellung wegen „Kreislaufprobleme“ absagen. So versumpfte in Wittenberge „Tartüffe“ in der Hafenschenke. „Nachdem wir ihn mit kaltem Wasser und Kaffee wieder flott gemacht hatten, stand er zwar pünktlich auf der Bühne, aber der Text war weg.“

In der Vorweihnachtszeit gaben die Schauspieler mitunter zwei Vorstellungen: nachmittags „Die Bremer Stadtmusikanten“, abends „Kabale und Liebe“. Die Dekorationen mussten dennoch in den Anhänger passen. „Einmal riss die Anhängerkupplung und die Deko rollte in den Graben. Da stehst du plötzlich ohne Verbindung da.“ Otto Kantel ging ins nächste Dorf, organisierte einen Traktor und neuen Anhänger und kam mit zwei Stunden Verspätung in den vollbesetzten Saal. Da konnten dann allerdings weder die Kostüme richtig aufgebügelt werden, noch das „Lockenliesl“ zur Ondulierschere greifen, um die gequetschten Perücken aufzufrischen. „Trotzdem behielt ich immer die Ruhe“, sagt der 81-Jährige, der bis heute keine grauen Haare bekommen hat.

Auch bei der Zimmerverteilung wurde der Reiseleiter gern bedrängt, denn schließlich entspann sich in der vielen Freizeit so manche Liebschaft, die nachts gern zusammenrücken wollte. Die Finanzhoheit lag ebenfalls in Otto Kantels Händen. Die Einnahmen verstaute er in seiner Aktentasche, „manchmal trug ich 1000 Mark mit mir rum“. Den Künstlern zahlte er täglich ihre Diäten aus: 3,50 Mark, das reichte für die Übernachtung im Hotel und ein kleines Mittagessen. „Manche wollten das ganze Geld auf einmal haben, machten eine große Sause und lutschten anschließend am Daumen.“

Als 1957 Gerhard Meyer das Intendentenzepter von Ilse Weintraut-Rodenberg übernahm, zog neuer Wind in die Truppe ein. Es wurde länger geprobt, die Qualität stieg. „Meyer hatte eine spitze, aber gute Nase für Künstler.“ Doch dann bekam die Wanderbühne Konkurrenz, das Fernsehen lief ihr zunehmend den Rang ab. Bald schrumpften die 60 Spielorte auf 30 zusammen und schließlich wurde 1964 das Tourneeensemble völlig aufgelöst und ins feste Haus integriert. Fortan machte Otto Kantel als Leiter des Besucherservices die Stadt mobil. Bis er 1995 sein eigener Reiseleiter wurde. Heidi Jäger

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