Kultur: Versüßtes Grausen
Von der Schwere der Schultüte: Eine Ausstellung im Stern Center erzählt Alltagsgeschichte
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Die mit Spitze gesäumten Kragen sind hoch geschlossen, das Haar streng nach hinten gekämmt und zu schweren Zöpfen geflochten. Die zu kleinen Damen herausgeputzten Mädchen schauen finster, fast ängstlich drein. Von Vorfreude auf die bevorstehende Schulzeit ist auf diesem Gruppenfoto anno 1888 keine Spur. Es ist die älteste Aufnahme in der Ausstellung über die Geschichte der Schultüten, die seit gestern im Stern Center zu sehen ist.
Aber auch viele Fotos jüngeren Datums zeigen Kinder, die trotz großer Zuckertüte nicht mehr als ein aufgesetztes Lächeln präsentieren. Sicher ahnen sie, dass die kommende Zeit nicht nur ein Zuckerschlecken wird.
Der Kleinmachnower Kulturhistoriker Lothar Binger, der gemeinsam mit Susann Hellemann diese Ausstellung zur Alltagsund Kulturgeschichte konzipierte, weiß selbst noch sehr genau, wie ihm sein Lateinlehrer immer mal wieder eine Tracht Prügel verabreichte. An eine Zuckertüte zu seiner Einschulung 1948 kann er sich hingegen nicht erinnern. Es war Nachkriegszeit.
Die mit rund 130 Fotografien und textlichen Erinnerungen ehemaliger Schüler gespickte Schau ist eine unterhaltsame Zeitreise, die durch Kleidung, Interieur und Selbstdarstellung kleine spannende Geschichten erzählt.
Die Jungs verharren mit ihrem braven Fassonschnitt, kurzen Hosen mit Bügelfalte und gestrickten Socken wie Unschuldslämmer vor der Kamera. In der wilhelminischen Zeit wurden sie auch gern im Matrosenanzug gesteckt: wohl ein in den Alltag hinübergeschwapptes Zeichen der Flottenbegeisterung und Kolonialpolitik des Kaisers. Die Mädchen aus den 20er Jahren sehen wiederum selbst wie Geschenkpakete aus. Auf ihren kleinen Köpfen thronen riesige Schleifen wie aufgestellte Hasenohren. Die meisten haben an ihren Schultüten schwer zu tragen, die Geschwister werden hingegen oft mit einer kleinen Trosttüte bedacht.
Einer, der sich sehr lebendig an seine Einschulung erinnern kann, war Erich Kästner. Obwohl die Schule aussah wie eine Kinderkaserne, erschreckte sie ihn nicht. Er trug seine Tüte wie eine Fahnenstange vor sich her. „Manchmal setzte ich sie ächzend aufs Pflaster. Manchmal griff meine Mutter zu. Wir schwitzten wie die Möbelträger. Auch eine süße Last bleibt eine Last“, schrieb er in seinen Erinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“, die auszugsweise in der Ausstellung nachzulesen sind. Besonders witzig ist die Stelle, in der er von seinem Fauxpas berichtet, als er über eine Stufe stolpert. „Ich erstarrte zur Salzsäule. Zu einer Salzsäule, die eine Zuckertüte umklammert. Es rieselte und purzelte und raschelte über meine Schnürstiefel ... Schließlich hielt ich nur noch einen bunten Kegelstumpf aus Pappe in den Händen, ließ ihn sinken und blickte zu Boden. Ich stand bis an die Knöchel in Bonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen, Waffeln und goldenen Maikäfern.“
Nicht immer fiel der Inhalt der Schultüten so üppig aus. Anfang des 19. Jahrhunderts erhielten nur Kinder aus besser gestellten Familien eine Zuckertüte, die sie beim Konditor oder Bäcker bestellen konnten. Der Brauch war anfangs allein in Sachsen, Thüringen, Schlesien und Böhmen bekannt. Die früheste biografische Notiz über eine Zuckertüte stammt von dem Sohn eines Ackerbürgers, der 1817 in die Jenaer Stadtschule eingeschult wurde. „Bei meiner Einführung in die Schule überreichte mir der Kantor eine mächtige Tüte mit Konfekt, wahrscheinlich als symbolisches Zeichen der vom Fleiße zu erwartenden Vorteile“, notierte er.
Ab 1850 durften sich auch Kinder ärmerer Eltern über eine Zuckertüte freuen. Doch machte sie ihrem Namen wenig Ehre: Zumeist waren darin nur Schulsachen, Schürze und Holzpantoffeln zu finden. In den 60er Jahren dieses Jahrhunderts gab es wohl kaum mehr eine Schule in Deutschland, in der keine Tüten verteilt wurden. Ostdeutsche Kinder durften sie sich oft sogar vom Baum „pflücken“. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wiegte man die Kinder in dem Glauben, dass die Schultüten auf einem Baum wüchsen, der im Schulkeller oder auf dem Schulboden seine „Früchte“ reifen ließe. Dieser Baum hatte viele Namen: Rosinen–, Wecken-, Tüten- oder eben Zuckertütenbaum.
Die beiden Kuratoren dieser Ausstellung, die zuvor auf der Burg Beeskow zu sehen war, sammeln seit 20 Jahren Fotos zur Alltagsgeschichte. Mittlerweile verfügen sie über 1700 Alben, die sie zumeist auf Flohmärkten auftrieben. „Anfangs war ich etwas skeptisch, diese Schau in dem riesigen Konsumtempel zu zeigen. Aber eigentlich ist so ein Center der heutige Marktplatz – und wenn er sich mit Kultur verbindet, um so besser. Und da immer weniger Menschen ins Museum kommen, gehen wir mit unserem ,Museum“ eben zu den Menschen“, so Binger. Und die Marktbesucher bleiben durchaus interessiert stehen, vertiefen sich auch in die Texte. Jeder wird sich dabei an seine ganz eigene süße Last erinnern.
Zu sehen bis 22. August
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