Kultur: Vertreibung, Vernichtung, Verleugnung
Experten-Podium über Völkermord in Armenien
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Experten-Podium über Völkermord in Armenien Mit der Ermordung von mehr als 2000 Armeniern in Konstantinopel begann am 24. April 1915 der erste Genozid des 20. Jahrhunderts. Zwischen 800000 und 1,5 Millionen Opfer, so schätzen die Historiker, kostete das brutaletürkische Vorgehen gegen die armenische Minderheit im eigenen Lande allein bis 1916. Doch ganze 90 Jahre mussten vergehen, ehe eine umfassendere Debatte dazu auch die deutsche Gesellschaft erfasst hat. Wohl noch unter dem Eindruck des mittlerweile beendeten „Lehrplanstreites“ zum Geschichtsunterricht an Brandenburger Schulen, veranstaltete das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) am Dienstag eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion genau zu diesem brisanten Thema. Der armenische Historiker Mihran Dabag vom Bochumer „Institut für Diaspora- und Genozidforschung“ konnte dann auch präzise benennen, was einen Völkermord von anderen Menschheitsverbrechen unterscheidet. „Ein Genozid geschieht nie ohne Motive, und er wird argumentativ begleitet“, erläuterte Dabag. Die Gruppe der Täter – im beschriebenen Falle die zur Macht gekommene Bewegung der Jungtürken – habe mit allen verfügbaren Mitteln um einen ethnisch homogenen Nationalstaat gekämpft. „Umgekehrt“, so der renommierte Bochumer Wissenschaftler und Franz-Werfel-Preisträger, „kann die Gemeinschaft der überlebenden und nachgeborenen Armenier keine gemeinsame Identität entwickeln, solange dieser Genozid geleugnet wird.“ Mihran Dabags Counterpart im Podium, der Historiker Elkhan Sadikhzadeh vom „Zentrum für Türkeistudien“ in Essen, hielt dagegen, dass die UNO-Konvention von 1948 Völkermord juristisch zwar klar definiere, eine „Vorprogrammiertheit“ im türkischen Vorgehen gegen die Armenier aber dokumentarisch nicht belegt sei. Zu Recht warf an dieser Stelle ZZF-Direktor Martin Sabrow ein, dass auch die Protokolle der berüchtigten Wannsee-Konferenz von 1941 Termini wie „Abwanderung“ und „Evakuierung“ beinhalteten, nicht aber die nationalsozialistische Absicht der Judenvernichtung wiedergaben. Moderator Thomas Schaarschmidt hatte schon zu Beginn der gutbesuchten Veranstaltung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte die Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen die nunmehrige Armenien-Debatte für die Erinnerungskultur in Deutschland zeitigen werde. Gangolf Hübinger von der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder knüpfte an Überlegungen des israelischen Historikers Dan Diner an, inwiefern sich beim Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges Ähnlichkeiten zum Holocaust während des Zweiten Weltkrieges fänden. Hierzu passte dann auch der Hinweis des Essener Sozialpsychologen Harald Welzer, dass einmal erfolgte Völkermorde oft als „Vorbilder“ für spätere Massenverbrechen dienten. Mit Gewissheit wissen wir heute: Die Kriegsmacht Deutschland, seinerzeit Verbündeter der Türkei und mit einer Fülle an Diplomaten und Militärs an den Orten der Massaker präsent, schwieg sich aus strategischen Gründen konsequent aus. Doch dass das deutsche Parlament zu einer öffentlichen Anerkennung des türkischen Völkermordes bis heute nicht bereit war – ganz im Gegensatz etwa zum französischen, belgischen oder italienischen – , könnte nach Ansicht des Potsdamer Historikers Julius Schoeps auch an tieferen Verstrickungen des Kaiserreiches liegen als bisher geahnt. „Die Beteiligung deutscher Offiziere an logistischen Maßnahmen und praktischen Einsätzen gegen die Armenier vor Ort ist noch zu untersuchen“, so der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums. Lieferten allein die Referenten schon Stoff für mehrere Seminare, so kam es nach Einbeziehung des Publikums noch zu emotionalen und politisierenden Zuspitzungen. Etwa dann, wenn Elkhan Sadikhzadeh armenisch-türkische „Assymetrien in der Informationsverbreitung“ konstatierte und ein äußerst skeptischer Besucher die aktuelle CDU-Bundestagsvorlage zum Armeniern-Genozid als platten Versuch einer EU-Ausgrenzung der Türkei interpretierte. Ein Glücksfall dann, dass die finale Diskussion sich wieder auf vorhandene Überlieferungen, Zeugnissen und historischen Dokumenten konzentrierte. Gangolf Hübinger lobte hierbei die quellenkritischen Untersuchungen des Journalisten Wolfgang Gust – soeben erschienen in dem Band „Der Völkermord an den Armeniern 1915/1916“. Gust stützt sich vorwiegend auf Archivmaterialien aus dem deutschen Auswärtigen Amt. Auf eine Öffnung der türkischen Archive wird noch gewartet.
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