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Kultur: Very british

The Miserable Rich im „nachtboulevard“

Stand:

Dunkel, nasskalt, verregnet. Die gesamte Atmosphäre des Mittwochabends schien darauf angelegt zu sein, das britische Sextett The Miserable Rich mit aller Kraft zu unterstützen. So sollte es ein Abend der kleinen Geschichten von Verzweiflungen werden, welcher von den „armseligen Reichen“ aus dem Süden Englands geboten wurde. Name und Konzept der Band wurden geboren, nachdem Sänger James de Malplaquet und Cellist Will Calderbank vor einigen Jahren auf einer italienischen Aristokratenhochzeit spielten – und sich ihnen wahre Abgründe auftaten.

Ein angenehmer kleiner Kreis von ungefähr 50 Besuchern hatte sich, locker um die Tische verteilt, in der Reithalle zusammengefunden. Die Distanz zur Bühne wurde beherzt verringert, als Malplaquet zum Aufrücken aufforderte – womit eine derart familiäre Stimmung heraufbeschworen wurde, dass das Konzert durchaus in einem Pub in dessen Heimatstadt Brighton hätte stattfinden können. Und genau so locker plauderte Malplaquet auch mit den Besuchern, wobei er sich deutliche Sympathiepunkte erkämpfte, indem er stets alles zuerst auf Deutsch zu erklären versuchte.

Es fällt nicht leicht, die Musik des Sextetts zu beschreiben. Ein folkiger Einschlag, aber auch etwas von einem klassischen Kammerorchester, eine Dominanz sanfter Klänge, fantastisch arrangiert von Kontrabass, Cello, Violine, Gitarre, Schlagzeug und Klavier. Und Sänger James de Malplaquet bildete das Zentrum dieses Arrangements, ausgestattet mit einem beneidenswerten Charisma und meilenweit entfernt von jeglicher Trivialität. Auf den Fußspitzen wippend bis hin zum Schwanken am Bühnenrand, die Augen geschlossen – und dann war es schlicht und einfach berauschend, was der oftmals synkopische und in Kopftöne gleitende Gesang Malplaquets für einen emotionalen Tsunami entfachte.

Und die Band zeichnete dazu derart bewegte Bilder, ein Flussabwärtstreiben, mit mäandernden, einlullenden Klangbildern, und überraschte immer wieder mit zwischen Gesang und Begleitung widersprüchlichen Konstruktionen. Die Kompositionen schienen den Sänger geradezu zu tragen, ob im hypnotischen Dreivierteltakt oder durch zartes Pizzicato der Streichinstrumente, dazu die schaurig-schönen Texte im herrlich britischen Akzent. Es entstand inszenierte Tragik, die dennoch vor Optimismus strotzte, verursacht durch geschickte Dur-Moll-Wechsel, Musik, die wehtat, ohne zu verletzen. James de Malplaquet sang dazu, als würde er seine Tränen hinunterschlucken müssen, mit einem sanften Vibrato in der Stimme, fast immer ein Glas Whisky oder Rotwein in der Hand – „Let’s have one more glass before we fuck off“, kündigte er die Zugabe an – und huldigte einer derart schönen Verzweiflung, dass man den Wunsch verspürte, sich noch diese Nacht im Keller eines britischen Pubs in einem Fass Ale zu ertränken.

Und das Publikum hielt den Atem an, stand von den Stühlen auf, ließ sich völlig mitreißen. Das ging auch gar nicht anders. Das Ende jeden Liedes verebbte einen kurzen Augenblick in einer absoluten Stille, bevor die Antwort in Form von frenetischem Jubeln zurückrollte. Und so bekam man eine atemberaubende Inszenierung geboten, die noch lange in einem nachhallte. Über eine Sache sollte man sich jetzt schon im Klaren sein: Diese Band in einem so familiären Rahmen zu erleben, wird perspektivisch in nächster Zeit kaum noch möglich sein. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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