Als Inge Lindner an das Hans Otto Theater (HOT) engagiert wurde, da konnte man sicher sein, dass mindestens vier Musiktheaterpremieren – Oper, Operette und Musical – in einer Spielzeit gespielt wurden. Das war 1969. Wohl wissend, dass der Repetitorin in Potsdam eine Menge Arbeit bevorstand, verließ sie das Hallenser Theater, wo sie sich zwangsläufig und gern mit Händel beschäftigte.
Auf den Besetzungszetteln konnte man auch in Potsdam hinter der „Musikalischen Einstudierung“ ihren Namen Iesen. Ihr Arbeitsmittel sind 90 weiße und schwarze Tasten – das Klavier. Klavierauszüge natürlich auch. Und da hatte sie ganz Unterschiedliches auf dem Pult. Denn Inge Lindner musste mit den Sängerinnen und Sängern das Musiktheater-Repertoire rauf und runter einstudieren, von Händel, Gluck, Graun, Mozart, Rossini über Verdi, Puccini bis zu Gerhard Rosenfeld. Vor allem in Mozart-Opern ist sie zu Hause. In der Musiktheater-Ära von Regisseur Peter Brähmig und auch später wurde vor allem das Opernschaffen des Salzburger Meisters gepflegt. Mehrere hundert Mal saß sie sicherlich am Cembalo im Schlosstheater, um die Rezitative in Opern zu begleiten. Inge Lindner musste auch, wenn beispielsweise einer Sängerin des ersten Knaben in Mozarts „Zauberflöte“ kurz vor der Vorstellung die Stimme versagte, aus der Gasse heraus die Partie gesanglich übernehmen.
Das Singen ist der Repetitorin eine Herzensanangelegenheit. Zu Hause in Bautzen sang sie viel mit ihrer Mutter, die Sängerin war, später im Domchor ihrer Heimatstadt sowie in der Meißner Kantorei, auch dann, als das Musikstudium in Dresden und Berlin sie beanspruchte. Seit mehr als 30 Jahren ist sie Mitglied des Oratorienchors Potsdam. Sie stand und steht seinen künstlerischen Leitern, Ekkehard Tietze und Matthias Jacob, als Repetitorin während der Proben und als Cembalistin in Konzerten zur Seite. Und manchmal reiht sie sich auch in den Chorsopran ein, um im Brahms- oder im Verdi-Requiem mitzusingen.
Musikalische Vielseitigkeit und Genauigkeit sind ein Hauptmerkmal der Künstlerin. Als Kammermusikpartnerin und Liedbegleiterin ist sie gefragt und wird geschätzt. Auch als Solistin in Orchesterkonzerten. Man denke nur an Aufführungen der Brandenburgischen Philharmonie mit Werken von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach. Das Cembalokonzert des Rehbrücker Komponisten Gerhard Rosenfeld hob Inge Lindner aus der Taufe. Aber auch zur Musik des Mittelalters oder der Renaissance fand sie ein intimes Verhältnis. Mit ihrer Singstimme, dem Cembalo, Blockflöten oder mit dem Schlagwerk ist sie gemeinsam mit dem Consortium musicum übers Land gefahren und hat in den entlegendsten Dorfkirchen musikalische Freuden bereitet. Inge Lindner feierte gestern ihren 65. Geburtstag. Nach 39 Jahren wird sie sich vom Hans Otto Theater verabschieden. Von der Musik glücklicherweise nicht. Klaus Büstrin
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