
© HL Böhme
Kultur: Vier Jungs spielen Piraten
Stephan Beers Regiedebüt „Die Schatzinsel“ nach Robert Louis Stevenson am Hans Otto Theater
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Die Geschichte ist so bekannt wie einfach. Ein Junge gerät wider Willen in die Wirren um eine Schatzsuche, erlebt zahlreiche Abenteuer auf einer Schiffsreise, findet Freunde und Feinde, bewährt sich als trickreicher aber immer ehrlicher Held, wird am Ende entsprechend belohnt und erhält einen Teil des gefundenen Schatzes. Diese Geschichte von Jim Hawkins, dem Jungen aus dem Gasthaus „Zum Admiral Benbow“ in der Nähe von Bristol, niedergeschrieben vom schottischen Schriftsteller Robert Louis Stevenson in „Die Schatzinsel“, ist unzählige Male verfilmt und in unzähligen Variationen neu erzählt worden. Doch das Original bleibt unübertroffen.
Denn „Die Schatzinsel“ ist eines dieser Bücher, das man als kleiner Junge nicht einfach gelesen, sondern regelrecht gefressen hat. Es hat die eigene Fantasie beflügelt, hat einem Traumwelten eröffnet, in denen man sich in die gefährlichsten und schönsten, in die unmöglichsten und heldenhaftesten Abenteuer gestürzt hat. Und hört man heute wieder die Namen Jim Hawkins und Käptn Flint, Doktor Livesey und Squire Trelawney, Long John Silver und Ben Gunn, wird in einem eine besondere Saite angeschlagen, deren Klang die Erinnerungen an damals wachruft und gleichzeitig die Sehnsucht weckt, wieder einmal auf die Reise zur Schatzinsel zu gehen.
Derzeit lädt Stephan Beer mit „Die Schatzinsel“ in der Bearbeitung von Andreas Gruhn zu einer solchen Reise ein. Knapp anderthalb Stunden dauert das Abenteuer für Kinder ab neun Jahren, das am gestrigen Donnerstag in der Reithalle Premiere hatte und von den Besuchern mit Applaus und sitzreihenerschütterndem Fußgetrappel gefeiert wurde.
Beer, freischaffender Regisseur und Autor, setzt in seiner Inszenierung auf Macht und Kraft der Fantasie und hat mit den Schauspielern Felix Steinhardt und Jan Dose, Josip Culjak und Martin Neuhaus vier hervorragende Begleiter gefunden, die für die entsprechenden Beflügelungen sorgen. Die Bühne von Georg Burger ist schlicht. In der Mitte ragt ein Sandhügel, das Klischeebild der einsamen Insel, auf der in der Reithalle zum Glück die obligatorische Palme fehlt. Dazu Tisch und Stuhl, Seemannskiste und Takelage. Natürlich dürfen nicht Degen und Messer, Pistolen und Musketen fehlen, wenn vier Jungs, wie in diesem Fall, Piraten spielen. Auch nicht Augenklappe und „Jolly Roger“, die sympathieheischende Piratenflagge mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Mehr braucht es aber nicht für dieses Abenteuer, das mit einem zwielichtigen Seemann namens Billy Bones beginnt.
Bones, Besitzer der Schatzkarte des seligen Käptn Flint, einst der am meisten gefürchtete und blutrünstigste unter den Freibeutern und Goldschefflern, lässt sich im Gasthaus „Zum Admiral Benbow“ nieder, in dem Jim Hawkins seinem schwerkranken Vater zur Hand geht. Da aber herrenlose Reichtümer, mögen sie auch versteckt auf irgendwelchen Inselchen liegen, die entsprechende Klientel aus Freibeuterkreisen anzieht, liegt Billy Bones bald tot auf dem Gasthausboden, nimmt Jim Hawkins die Schatzkarte an sich und flieht zu Doktor Livesey und Baron Trelawney, die gleich eine Expedition zur verheißungsvollen Insel mit dem vergrabenen Schatz planen.
Jim Hawkins, der Gute, der Tapfere, der Schlitzohrige, das ist hier jeder der vier Schauspieler. So steht es auf ihren T-Shirts, so erzählen sie mal im Chor, mal abwechselnd, das Abenteuer aus Sicht des Ich-Erzählers Jim. Im weiteren Verlauf bleibt dann Felix Steinhardt als einziger ständig als Jim Hawkins präsent, während die anderen mit schnellen Kostümwechseln in elf andere Rollen schlüpfen. Und dieses so Offensichtliche, das immer mehr so wirkt, als seien hier vier Jungs zusammengekommen, um „Die Schatzinsel“ nachzuspielen und in Ermangelung anderer Freunde einfach improvisieren, besser gesagt spielen, macht den besonderen Reiz dieser Inszenierung aus.
Ob nun Jan Dose als durchtriebener Pirat mit dem schönen Namen Schwarzer Hund, als herrlich überdrehter Graf Trelawney oder als grenzdebiler Freibeuterkasper George Merry, ob Martin Neuhaus mal als herzensguter, aber bestimmter Dr. Livesey oder als „einbeiniger Teufel“ Long John Silver, diese Kerle verstehen ihr Handwerk. Und wenn Josip Culjak als Kapitän Smollet das bellende Autoritätsbündel gibt oder unter Ziegenfellmantel den herzensguten Ben Gunn spielt, der drei lange Jahre einsam auf der Schatzinsel leben musste, sind das die Höhepunkte auf dieser Abenteuerreise.
Dass es bei dieser Geschichte weniger um den Schatz geht, sondern um Ehrlichkeit und Menschlichkeit, um Würde und Anstand, im Grunde um die Entscheidung, trotz aller Verlockungen, auf der richtigen Seite zu bleiben, wird immer mal wieder in kurzen Dialogen gestreift. Wer hier mehr pädagogische Gewichtung wünscht, der mag kritisieren. Doch würde das gleichzeitig bedeuten, die Intelligenz der kleinen Theaterbesucher zu unterschätzen. Dieses Abenteuer spricht für sich. Und auch wenn diese Piraten und Möchtegernseemänner hinsichtlich ihrer Gesangsqualitäten noch Abstimmungsbedarf haben, immer wenn sie „15 Mann auf des toten Manns Kiste“ anstimmten, sorgte das nicht selten für leichtes Gänsehautgefühl. Und ganz ehrlich, je derber, je versoffener dieses Piratenlied gegrölt wird, umso schöner klingt es.
Wieder am heutigen Freitag, 10 Uhr, und am Sonntag, dem 12. Februar, 15 Uhr, in der Reithalle in der Schiffbauergasse. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 98 1 18
Dirk Becker
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