
© Franck Boisselier
„Made in Potsdam“ in der fabrik: Völlig losgelöst
„Made in Potsdam“ zeigt in der fabrik, wie die Grenzen des zeitgenössischen Tanzes verschwinden. Und sich für Lyrik, Dokumentation, Hörspiel und Elektro öffnet.
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Mit dem neuen Jahr beginnt – fast schon traditionsgemäß – eine neue Hochsaison für den zeitgenössischen Tanz in Berlin und Potsdam. Die Tanztage in den Berliner Sophiensälen gehen gerade ihrem Ende entgegen, da beginnt in Potsdam ein kleines, feines Festival. Am kommenden Donnerstag startet die sechste Auflage von „Made in Potsdam“.
War das Festival anfangs als Werkschau der in Potsdam entstandenen Tanzproduktionen gedacht, wurde das Programm mit den Jahren immer weiter gefasst. Seit 2013 arbeitet die fabrik mit dem Kunstraum im Waschhaus zusammen, hat in das Programm die Bildende Kunst mit eingebunden. Diesmal wird erstmals auch Klangkunst zu hören sein.
Sing den Tanz, tanz den Film
Auch die Grenzen dessen, was zeitgenössischer Tanz beinhaltet und auf der Bühne der fabrik bis Ende Januar gezeigt wird, scheinen sich immer weiter zu öffnen. Das Genreüberschreitende und das Interdisziplinäre sind die Regel, Bewegungskunst mischt sich mit dokumentarischen Arbeiten, Videoeinspielungen, Hörchoreografien, Gesangskunst, auch die Grenze zur Theaterkunst hat sich aufgelöst. Anders als bei den Berliner Tanztagen wird es hier aber keinen Überblick über die aktuelle Tanzszene geben. „Diesen Anspruch können wir gar nicht erheben“, sagt Sven Till, künstlerischer Leiter der fabrik und des Festivals. Zu dünn sei die Decke an Tanzproduktionen aus Potsdam. Stattdessen wählen sie aus. Die fünf Produktionen, die in der fabrik gezeigt werden, stehen denn auch richtungsweisend für die Wege, die der zeitgenössische Tanz derzeit beschreitet.
Der Titel des Festivals „Made in Potsdam“ mag ein wenig irreführen. Lediglich eine Inszenierung stammt von Potsdamer Künstlern, „Mein Touristenführer“ vom Choreografenduo Paula E.Paul und Sirko Knüpfer. Die anderen Tanzkünstler sind zwar seit Jahren eng mit der fabrik verbunden – die meisten zeigen hier regelmäßig ihre neuen Produktionen –, wirklich in Potsdam leben und arbeiten sie aber nur für den kurzen Zeitraum von ein bis drei Wochen im Rahmen des Residenzprogramms „Artist in residence“ der fabrik.
Was bleibt, wenn die Hauptfiguren verschwinden?
So etwa die kroatische, in Paris lebende Künstlerin Ivana Müller. Sie tritt als Einzige erstmals bei dem Festival auf. Müller ist Choreografin, Theatermacherin und bildende Künstlerin und verkörpert damit bereits das Grenzüberschreitende. Mit ihrem Stück „Edges“, das in Potsdam seine Deutschlandpremiere erlebt, verhandelt sie die Aufführungspraxis im Theater neu. Allein die Nebendarsteller sind zu sehen, die Hauptdarsteller bleiben verborgen, hinterlassen lediglich Spuren bei der Statistengruppe. Das Wesentliche ist verschwunden, das Periphere rückt ins Zentrum. Letztlich ist es das Publikum, das das Geschehen auf der Bühne erfindet. „Die Ermächtigung des Zuschauers“ nennt das Till. Auch in anderen Stücken rücke der kommunikative Raum zwischen Bühne und Publikum in den Fokus, das Theatererleben werde somit zu einem aktiven gemeinsamen Gestalten von Wirklichkeiten und Wahrheiten.
Auf gewisse Weise ähnlich funktioniert das choreografische Hörspiel von Antonia Baehr und Valérie Castan. Letztere gab als Übersetzerin für Tanzstücke für Blinde die Initialzündung für das Stück. Mithilfe des Verfahrens, das Visuelles vermittelt, wird eine imaginäre Aufführung beschrieben. Der Performer (William Wheeler) auf der Bühne steht nicht im Zentrum, sondern ist nur ein Teil der Überlappungen, die sich aus dem Bühnengeschehen, gesprochenem Text und Livemusik ergeben. „Wie auf der Veranda sitzend, in Erinnerungslandschaften schauend“ – so beschreibt Till die Mehrfachverschachtelungen und die schwebende Kraft im Stück „Des miss et des mystères“.
Wer sind die Tänzer?
Ganz personenzentriert sind hingegen die Produktionen von Mickaël Phelippeau und Malgven Gerbes und David Brandstätter, alle drei bekannte Gäste von „Made in Potsdam“. Phelippeau widmet sich, wie in seinem im vergangenen Jahr gezeigten Stück „Pour Ethan“, dem choreografischen Porträt. Mit „Llamame Lola“ nähert er sich diesmal der spanischen Tänzerin Lola Rubio an. In der dokumentarischen Choreografie „Air“ erzählen drei Tänzerinnen aus Taiwan, Polen und Frankreich auf der Bühne und in Filmsequenzen von ihrem Leben. „Das ist wirklich mal die Gelegenheit, hinter die Kulissen zu schauen“, sagt Till. So unterschiedlich die Voraussetzungen der drei Frauen sein mögen, die Hierarchien und Widerstände, jede sei stark im Kampf, sich als Künstlerin zu behaupten, so Till.
Seit Jahren behaupten sich auch die beiden Potsdamer Paula E. Paul und Sirko Knüpfer, die als „Kombinat“ firmieren. In ihrer Produktion „Mein Touristenführer“, die zugleich die politisch aktuellste des Festivals sein dürfte, bewegen sich drei Sopranistinnen auf Segways durch den Raum, die Zuschauer wie Inseln zwischen ihnen, und singen Lieder über die Sehnsucht nach der Fremde, das Reisen und das Aus- und Einwandern.
Grenzen überschreitend, inhaltlich wie formal, ist gewiss ein Schwerpunkt des diesjährigen Festivals. Stärker als bisher gewinnt aber auch das Narrative in den Stücken an Präsenz. Festivalleiter Sven Till erhofft sich damit auch ein Theaterpublikum anzusprechen, das womöglich bislang Berührungsängste mit zeitgenössischem Tanz hatte.
Grit Weirauch
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