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Kultur: Vom Knoten im Wassertropfen

Morgen beginnen in der fabrik die 16. Potsdamer Tanztage

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Wie gehen wir um mit den Nachrichten, die uns aus der Welt erreichen, mit Bildern von brennenden Häusern, hungernden Kindern und anklagenden Müttern? Medial erschlagen, kappen wir mitunter die Verbindungslinien zwischen visueller Wahrnehmung, rationalem Verstehen und tiefem Empfinden. Was dann im Innern bleibt, ist ein leerer Raum, an dessen Boden schwer die Ohnmacht liegt.

Lia Rodriguez, Tänzerin und Choreografin aus Rio de Janeiro, will diese Leere füllen. Sie sucht nach neuen Vermittlungswegen. In „Incarnat“, zu sehen bei den 16. Potsdamer Tanztagen in der fabrik, geht sie mit ihrer Truppe bis an die Grenze des Schockierenden. In der Verzweiflung zurückgeworfen auf das eigene Ich, setzt sie die ganze Körperlichkeit ein, kraftvoll, grausam, zerstörerisch ehrlich und gerade deshalb auch schön.

„Sie erinnert uns daran, welchen Platz die Kunst in der Gesellschaft einnehmen kann. Manchmal haben wir das ein wenig vergessen“, gesteht Sven Till, der das Programm der Tanztage zusammenstellte. Lia Rodriguez hat ihr Studio bewusst in einem Armenviertel ihrer Stadt angesiedelt, um der sozialen Ungerechtigkeit etwas entgegen zu setzen, den Menschen ein besseres Gefühl für sich selbst, eine Idee für ihr Leben zu geben, gemeinsam etwas zu tun: zu tanzen.

Das Programm der morgen beginnenden Tanztage durchzieht kein roter Faden. Die Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes bestimmt von jeher das Profil des internationalen Festivals. Und doch wird am Ende vielleicht etwas sichtbar werden, das alle Stücke gemeinsam haben: ein erweiterter Blickwinkel. Wo sich in den 90er Jahren Choreografien oft in den Innensichten Einzelner verloren, gebe es jetzt wieder mehr Reflexionen über das spannungsreiche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, meint Till. Die Arbeiten seien in Zeiten größerer existenzieller Unsicherheit gesellschaftlich sensibler, auch politischer und sozial engagierter geworden. So wird die DIN A 13 Company mit behinderten und nicht behinderten Tänzern aus Köln und Nairobi in ihrem Stück „CounterCircles“ manch kulturelles Tabu antasten und eingefahrene Vorstellungen von Bewegungsschönheit aus der Bahn werfen. Ein in doppelter Hinsicht grenzüberschreitendes Projekt.

Auch die aus Budapest kommende, inzwischen in Berlin lebende Eszter Salomon rührt an vorgeprägte Wahrnehmungsmuster. Sehen wir, was wir zu sehen glauben, fragt sie und lässt schon im Titel ihres Tanzstücks „NVSBL“ (invisible) die beiden „I“ verschwinden. Das „Unsichtbare“ gewinnt an Schärfe, das Reale jedoch entpuppt sich als optische Täuschung. Für Sven Till ist Eszter Salomon eine der am konsequentesten arbeitenden Choreografinnen in Deutschland. Noch nie habe er ein Stück mit so extremen Zeitdehnungen gesehen. Selbst der einzige gesprochene Satz, bestehend aus zehn Worten, werde über die gesamte Länge gezogen. Reduziert auf wenige Grundideen müsse sich der Zuschauer auf das Wesentliche konzentrieren. Wer sich aber auf die Langsamkeit einlasse, werde Dinge finden, deren Existenz er in der Schnell- und Kurzlebigkeit des Alltags nicht bemerkt hätte.

Zum Beispiel einen „Knoten im Wassertropfen“, so der Titel eines Tanzprojekts, das Be van Vark mit Schülern aus Eisenhüttenstadt im Internet entwickelt und dann in die reale Lebenswelt der Jugendlichen rückversetzt hat. Es geht darum, Sehnsüchte zu beschreiben und Chancen wahrzunehmen, das scheinbar Unmögliche – den Knoten im Wassertropfen – möglich zu machen. Die Videoclips, Fotografien und Texte der Schüler vermischen sich schließlich auf der Bühne mit der realen Tanzperformance.

Neben den abstrahierenden und experimentellen Stücken findet sich bei den Potsdamer Tanztagen immer auch erfrischendes Tanztheater, das groteske Geschichten erzählt, wie jene von den „Red-Letter Days“, den rot markierten Tagen im Kalender, an denen man zum Beispiel zu einer Party eingeladen ist. Jenni Kivelä aus Helsinki visualisiert das fiese Unbehagen, die ganze Peinlichkeit, nicht zu wissen, wie man sich dort am besten verhalten soll. Eine freudvolle Attacke auf die oberflächliche Eventkultur und ein übertrieben angepasstes Rollenverhalten, flott inszeniert mit geschwinden, fast fliegenden Tänzen, atmosphärischer Musik, Kostümen und Bühnenbild. Zur morgigen Eröffnung der Potsdamer Tanztage erlebt das finnische Stück seine Deutschlandpremiere – ein Termin, den man sich ohne Unbehagen im Kalender rot anzeichnen darf.

fabrik: 24.5. – 4.6., Tel.: (0331) 280 03 14

Antje Horn-Conrad

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