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Verdreht. Was den meisten richtig erscheint, muss für andere nicht falsch sein.

© Anna Bausch

Kultur: Von der Schönheit des Scheiterns

Die Scuola Teatro Dimitri aus Locarno gastiert mit „Die Welt der Einfältigen“ in der „fabrik“

Stand:

Ein Bein über das andere schwingen. Nichts könnte leichter sein. Eine täglich fast hundertfach so ausgeführte Bewegung, so nichtig, dass man nicht einmal mehr darüber nachdenkt, sie bei sich selbst gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn jemand das nicht hinbekommt, es immer und immer wieder versucht und doch jedes Mal scheitert, halten wir ihn dann für – ja: einfältig?

„Die Welt der Einfältigen“ heißt das Stück, mit dem die Abschlussklasse der Scuola Teatro Dimitri gerade auf Tournee ist und mit dem sie an diesem Wochenende auch in der „fabrik“ gastiert. Wie jedes Jahr hat die Schule einen externen Choreografen herangeholt, der mit den jungen Tänzern ein eigenes Stück entwickelt. Diesmal ist das Andrés Corchero, Spanier und profunder Kenner des zeitgenössischen japanischen Butoh, auch Tanz der Finsternis genannt. Entstanden in den 1960er-Jahren – infolge der zunehmenden westlichen Einflüsse – sollte sich diese Strömung gegen die grauenerregende artifizielle Harmlosigkeit und Biederkeit wenden, Erschrecken und Abwehr beim Publikum hervorrufen.

In Corcheros Stück ist die Intention eine andere: Inspiriert durch Oliver Sacks Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, einem Band von Fallgeschichten, den der Neurologe 1985 veröffentlichte, soll vielmehr die Wahrnehmung der Zuschauer geweitet werden. Den Gedanken an neurologische Störungen verbinden viele mit Stereotypen. Mit Krankheit, Abseitigem. Sacks sah das anders, er entdeckte darin eine eigene Qualität.

Und Stereotype soll auch „Die Welt der Einfältigen“ abbauen. „Das Thema passte sehr gut zur Ausrichtung unserer Schule“, sagt Susanne Plata, Dozentin an der Scuola Teatro Dimitri. Denn darum geht es ihnen dort: Dinge allein mit dem Körper auszudrücken, ein ganzes Universum abseits der Ratio und allein durch Bewegung zu schaffen. Deshalb ist es auch kein narratives Stück, es liegt keine dramaturgische Handlung zugrunde, es ist tatsächlich eine Choreografie über Bewegungsabläufe, die man als gestört bezeichnen kann – aber eben nicht muss. Um dabei keine Stereotype zu reproduzieren, bat Corchero die Studenten, sich keine Filme oder YouTube-Videos von neurologisch Erkrankten anzusehen. „Die Tänzer sollten nichts kopieren, keine fertigen Bilder im Kopf haben“, sagt Susanne Plata.

Da könnte man natürlich einwerfen: Wo ist denn nun die Beschäftigung mit neurologischen Störungen – zu den häufigsten zählen etwa Epilepsien, Parkinson, Multiple Sklerose.

Aber wenn man davon weg will, das alles nur von außen als etwas Seltsames, Krankhaftes zu sehen, wenn man sich vielmehr damit beschäftigen will, wie der Betroffene fühlt, dann ergibt diese Herangehensweise durchaus Sinn. So kann, sagt Susanne Plata, auch eine Auseinandersetzung damit stattfinden, welche verschrobene oder schiefe Sicht man als Gesunder auf „das Andere“ hat. „Man entdeckt diese Welt, die einem bisher fremd war“, sagt Plata – und zwar, so ist auch Sacks Herangehensweise, durch sehr genaues Hinsehen, dem Beschreiben dessen, was auch durch die Wissenschaft nicht immer bis ins Letzte erklärbar ist. „Manches lässt sich eben nicht fassen, das Spannende des Buches ist auch, wie Sacks bei seinen Fällen das Konkrete und vor allem das Charmante, Eigenwillige beschreibt.“

Da gibt es etwa diese Szene, in der Sébastien Olivier, einer der Tänzer, von einem Stein auf den anderen springt, im festen Glauben daran, verloren zu sein, wenn seine Füße den Boden berühren. Darin werden sich viele wiedererkennen, die als Kinder keinesfalls auf die Ritzen zwischen den Pflasterseinen treten durften. „Es muss eben gar nicht immer ein trauriger, mitleidvoller Blick sein, mit dem man auf solche neurologischen Störungen blickt“, sagt Plata. Das Gefühl des Verlorenseins, der Isoliertheit der Betroffenen wird trotzdem thematisiert. Mit ganz einfachen, aber extrem präzisen Gesten und choreografischen Bildern. Der Szene etwa, in der alle vereinzelt in einem großen leeren Zimmer zu stehen scheinen.

Als Aufführungsort ist die „fabrik“ übrigens noch Neuland für die Scuola Teatro Dimitri. Allerdings haben dort schon Teile der mehrtägigen Aufnahmeprüfung stattgefunden. Damit nicht alle europäischen Bewerber des mehrteiligen Verfahrens nach Locarno reisen müssen, wird die erste Etappe an verschiedenen Orten in Europa durchgeführt. Am Ende sind es zehn bis 14 Studenten pro Semester. Nicht alle schaffen es bis zum Schluss, manche steigen aus, andere schaffen die Zwischenprüfungen nicht. In dieser Abschlussklasse stehen zehn Tänzer auf der Bühne. Fünf Männer, fünf Frauen. „Eine Seltenheit“, sagt Susanne Plata. In der Regel studieren deutlich weniger Männer als Frauen Tanz.

„Die Welt der Einfältigen“, „fabrik“ in der Schiffbauergasse, Samstag 20 Uhr, Sonntag 16 Uhr

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