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Kultur: Von Schwere und Leichtigkeit

Zu Dieter Lattmanns Roman „Fernwanderweg“

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Zu Dieter Lattmanns Roman „Fernwanderweg“ Wer dieses Buch liest, begibt sich auf einen weiten Weg, der nach jeder Biegung und jeder Steigung unverwechselbare Aussichten bietet und Einsichten bereit hält, für den, der bereit ist, sie aufzunehmen. Einmal betreten vermag ich diesen Weg nicht mehr zu verlassen. Dieter Lattmann, gebürtiger Potsdamer, erweist sich als ein beharrlicher unaufdringlicher Führer, der mit einfühlsamer, ruhiger Sprache erreicht, dass ich genau hinschaue und einpräge, worauf er uns aufmerksam machen will. Auf den Weg, den vor mir Radji und Patrick gegangen sind, zwei junge Freunde, die in die Abhängigkeit von Suchtmitteln geraten und in die Katastrophe fallen. Was ich mit einem nüchternen Satz zusammenzufassen versuche, erzählt Dieter Lattmann in vierzehn Kapiteln. Die Menschen über die der Autor erzählt, die er erzählen lässt, werden mir vertraut, und es ist als wäre ich ihnen viele Male begegegnet, hätte mit ihnen in einer Kneipe gesessen, Bier getrunken, Pfeife geraucht, über die Zeit und die Welt gestritten und philosophiert, ihre Stärke erfahren, ihre Klugheit und Ausgelassenheit sowie ihre Schwäche. Als hätte ich ihnen zugesehen, wie sie – die Baumgärtner – arbeiten, wie sie Bäumen helfen, sie selbst zu werden und gleichzeitig im Ringen um sich hilfloser und hilfloser. Ihre Melancholie erlebe ich, die einen Menschen plötzlich stumm und einsam machen kann und anfällig. Diese wachsende Anfälligkeit der Melancholischen und Glücklichen! „Wie kann man an einem Baum vorübergehen, ohne glücklich zu sein.“ Dieser Satz Dostojeskis ist unausgesprochene Bestätigung und Widerspruch zugleich für Radji und Patricks Aufstieg und Sturz. Wohl an die tausendmal schwebten sie in Baumkronen, wurden sie zu Schöpfern von Bäumen. Aber jedesmal mussten sie zurück auf die Erde, hin ein in den Alltag mit seinen kleinen und großen Sehnsüchten, mit seinen gefährlich-freundlichen Verführungen, seinen Befremdlichkeiten. Lattmann erzählt über das Verfallensein und über das Ringen gegen die Sucht hinaus, dass es Menschen gibt, die über jede Grenze gehen bei der Hilfe für andere. So erlebe ich im Wertach-Haus – einer Klinik für Süchtige – eine Insel im Ozean von Egoismus, Gleichgültigkeit und Ausgrenzung. Gleichzeitig begreife ich die verheerenden Ausmaße und Wirkungen einer Krankheit, die ich als Krankheit nicht anerkennen wollte. Mit langem Atem Der Verlauf der Sucht ist bekannt, wie die Möglichkeiten ihr Herr zu werden. Aber die Ursachen, die physischen und psychischen Voraussetzungen, die sie ausbrechen lassen, liegen weitgehend noch im Dunkel. In zwei Sätzen – besonders in ihnen – kommt Lattmann diesem Geheimnis nahe, als er Radjis Vater denken lässt: „... und mit einem Mal wurde ihm deutlich, wie in jeder Sucht wohl auch eine Sehnsucht nach Kühnheit lag. Eine Schwere, die das Leben nicht tragen konnte und sich Leichtigkeit wünschte ...“ Es ist ein Buch mit langem Atem, der meinen Leserhythmus von Ruhe und Tiefe bestimmt, dass ich Leser und literarische Figur in einem bin. Und im Wechselspiel von Nähe und Distanz vermag ich mich nicht heraus zu halten, ich leide, versage und gewinne oder verliere wie Radji, Patrick und Arne aus Anrum, der das letzte ihm verbliebene Quäntchen innerer Kraft benutzt um mit ausgebreiteten Armen von einem Felsen in den Tod zu fliegen. Ich habe ein Buch gelesen, das mir den Reichtum meiner Sprache vermittelt. Einer Sprache, deren poetische Kraft sich mit Klarheit paart, wie Leibniz sie uns einst auftrug, als er schrieb. „Klarheit bei den Worten. Nutzen bei den Dingen.“ Selbst dort, wo Lattmann erklärt, bleibt er Schriftsteller mit dichten, deutlichen Sätzen. Er tritt nicht als Überreder oder Beschwörer auf. Er sagt nicht Gefühle über Dinge aus, sondern die Dinge so, dass sie gefühlt werden können. Er versucht nicht, eine Sache als interessant zu erklären, sondern das Wichtige, Interessante einer Sache zu entdecken. So setzt er mit dem Erzählen übers Wertach-Haus ein fabelhaftes Zentrum für den Roman, das Welt in sich trägt und Welt aufgibt. Ich habe wieder einmal ein Buch lesen können, das sich um die immer wieder aufflackernde Streiterei übers Daseinsrecht der literarischen Gattung „Roman“ nicht kümmert und die Behauptung, der Roman sei tot, bestens widerlegt. Walter Flegel Dieter Lattmann, Fernwanderweg, Zenit Verlag München, 20 Euro.

Walter Flegel

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