Kultur: Vor dem schief hängenden Bild
Lieder und die „Lebensgeschichte“ des Rudi Schuricke im Comédie Soleil
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„Erst testen, dann inszenieren“ ist das Ur-Prinzip der neuen „Montagabend“-Reihe in der Comédie Soleil. „Lassen Sie sich überraschen!“, war auch von Theaterchef Michael Klemm zu hören, welcher vorgestern die Abendkasse führte. Kasse machten Eckhard Becker, Regine Albrecht, der Tenor Heinz Hillmann und Christian Kozik am Klavier nun gewiss nicht, als sie den zwar großartigen und trotzdem relativ unbekannten Rudi Schuricke in einer locker gestalteten musikalisch-literarischen Form präsentierten.
Ohne Honorar, nur „zum Vergnügen“, fügte Eckhard Becker augenzwinkernd hinzu. Er hat glücklicherweise aufgeschrieben, was Schuricke, dem gebürtigen Brandenburger, in seinem sechzigjährigen Leben an Umtriebigkeiten so alles passierte: Wie es ihn von der Havelstadt nach Königsberg verschlug, wo er „das Maturieren versäumte“, dafür aber an seiner Stimmbegabung arbeiten konnte, welche ihn später zum „ersten Popstar der Nachkriegsgeschichte“ machen sollte. Doch zuvor kam er an die Ostfront. Ohne nur einen Schuss abgegeben zu haben, was ein spezialisierter Sowjetsoldat schnüffelnderweise auch nachweisen konnte, musste er in einen Gulag, konnte aber sowohl Lagerkommandant als auch die gesamte Aufsehermannschaft in seine Gesänge einwickeln.
Dichtung, Wahrheit?: Nachdem er als gelernter Drogist schon in Ostpreußen Göring mit Morphin versorgt hatte, wurde er von den Russen als Agent angeworben, um nach dem spektakulären Bernsteinzimmer zu suchen. Kurz danach kam er zum Geheimdienst der Deutschen, fand die kostbare Beute, verschleppte sie aber nicht, wie befohlen, nach Kassel, sondern, tja, wohin wohl? Nach Brandenburg, wo sie während eines Luftangriffs genau dort im Wasser versenkte, wo sich noch heute der Fontane-Klub befindet. Eingebunden in diese haarsträubende Geschichte gibt es ein weiteres Geheimnis. Es geht um das Lied „Caprifischer“. Becker fand nämlich heraus, dass Schuricke die bekannte Fassung aus einem Urtext veränderte, um dergestalt das Geheimnis des Bernsteinzimmers verschlüsselt weiterzugeben. Ahnungslos sangen seine Soldaten davon, als sie die Ostsee mit dem kostbaren Gut entlang schipperten. Heinz Hillmann mit weissem Jackett und roten Schal sang es im Soleil, ganz zuletzt. Weil die Mär allen gefiel, stimmte sogar das Publikum ein. Kurz, es war wunderbar, heiter und höchst vergnüglich, was man am Montagabend vor dem schiefhängenden Bild des Lebenskünstlers wahrnahm.
Das soll nun fortan alle vierzehn Tage so weitergehen. „Literarisches/Musikalisches mit Eckhard Becker“ wird man in den Ankündigungen lediglich finden, mehr nicht, denn man soll sich ja überraschen lassen, und es sei nicht ausgeschlossen, einen derart präsentierten „Testballon“ später mal als richtigen Theaterabend wiederzufinden.
Das Projekt hat es in sich: Wer eine solche Veranstaltung verpasst, der hat sie verpasst, denn es gibt nur eine Vorstellung, Schluss! Gerold Paul
Gerold Paul
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