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Kultur: „Wahrscheinlich die größte Chronik des 18. Jahrhunderts“

Frank Pleschinski über die Tagebücher des Herzogs von Croÿ, die er an diesem Sonntag in der Villa Quandt vorstellt

Stand:

Herr Pleschinski, wie haben Sie ihn kennengelernt, den schreibfreudigen Herzog von Croÿ?

Als Student in Paris, nach einer durchzechten Nacht, bin ich in ein Antiquariat geraten, habe dort ein paar Seiten über Madame Pompadour vom Herzog von Croÿ entdeckt und fand das so fesselnd, dass ich dann 20 Jahre lang alle Materialien zu diesem Herzog gesammelt habe.

Was hat Sie an diesen Aufzeichnungen derart gefesselt, dass daraus eine regelrechte Lebensaufgabe wurde?

Diese Memoiren vermitteln einen Stoff, den es sonst nicht gibt und das in einer Farbigkeit, die mir sofort ins Auge stach. Dann habe ich gewartet, bis ich die Kraft und die Zeit hatte, die insgesamt 4000 Seiten zu sichten und eine Auswahl für das Buch „Nie war es herrlicher zu leben“ zusammenzustellen. Beim Übersetzen merkte ich, dass ich hier wirklich einen Schatz in den Händen halte. Und die Resonanz seitens der Leser gibt mir da recht, denn das Buch ist ja ein Bestseller geworden.

War Ihnen am Anfang schon bewusst, auf was Sie sich da einlassen?

Ich habe erfahren, dass im herzoglichen Archiv in Westfalen ein paar Dutzend Bände liegen und ich wusste, dass der Herzog gut 60 Jahre lang fast täglich Eintragungen gemacht hatte. Da konnte ich ermessen, dass es sich hier wahrscheinlich um die größte Chronik des 18. Jahrhunderts handelt.

Warum hat der Herzog überhaupt Tagebuch geschrieben?

Nicht für die Öffentlichkeit, sondern um sich an seinem Lebensabend an die Ereignisse seines Lebens zu erinnern, von denen auch seine Nachfahren lesen sollten. Das war einfach nur als Familienschatz gedacht, der dann lange und verstreut unerkannt in den unterschiedlichsten Archiven lag. Für mich war das dann im Grunde eine Jubelarbeit, diesen Piratenschatz ans Licht zu heben.

Was macht diese Tagebücher so besonders, dass Sie immer wieder von einem Schatz reden?

Hier sind wir zum ersten und einzigen Mal wie live dabei und können Madame de Pompadour, die Comtesse du Barry, Benjamin Franklin, Jean-Jacques Rousseau oder Marie Antoinette reden hören, denn der Herzog schrieb abends auch die Gespräche mit diesen Leuten auf wie in ersten Interviews. Das macht diese Aufzeichnungen so kolossal lebendig. Wir erleben ihren brillanten Geist, ihre Gesprächskunst, die Noblesse ihres Auftretens. Madame de Pompadour, eine schwer arbeitende, wunderschöne Frau. Das verblüfft uns, denn sie gilt bis heute als Mätresse Ludwigs XV. und die Zeit als eine Zeit der Dekadenz. Doch ganz im Gegenteil, Versailles war das modernste Verwaltungszentrum Europas. Umso mehr können wir nur darüber staunen, wie diese prächtige Titanic Versailles in den Untergang raste.

In Ihrem Nachwort schreiben Sie über den Herzog: „Ohne dichterischen Ehrgeiz, hinterließ er dennoch ein literarisches Werk.“ Was meinen Sie damit?

Der Herzog war kein eitler Mann, er wollte nicht dichten. Er hat als Offizier minutiös aufgeschrieben, was er erlebt hat. Somit werden diese Tagebücher zu der lebendigsten Lektüre jener Zeit, wie ein plötzlich aufgetauchter Film über eine große Epoche Europas. Hier hat der Herzog minutiös eine Welt beschrieben, die gar nicht so anders ist als unsere.

Inwiefern?

Die Menschen, ihre Leidenschaften, das war damals alles das Gleiche wie heute. Der Herzog hat mir einfach gezeigt, wie die Menschen immer schon sind.

Zählen Sie dazu auch das exzessive Streben des Herzogs nach Titeln und Ämtern, das ja unserem heutigen Ringen um Anerkennung nicht unähnlich ist?

Absolut. Wir haben es bei dem Herzog von Croÿ mit einem Karrieristen zu tun, der sehr oft kein Glück hatte. Aber das ähnelt unglaublich unserer Gesellschaft, in der Karriere und Erfolg oft das Wichtigste sind. Und mit Verblüffung lesen wir, wie es damals war in Versailles und auch in Deutschland. Gleichzeitig findet sich eine frühe Form von Kafka in diesen Tagebüchern.

Franz Kafka?

Ja, denn 20 Jahre lang versucht der Herzog in den Heiliggeistorden gewählt zu werden. Er irrt wie bei Kafka durch das Schloss von Versailles und hat einfach keinen Erfolg mit seinem Anliegen. Und als er es endlich geschafft hat, kann er sich nicht mehr freuen. Das ist durchaus hochmodern. Eine Zeit also, die unserer so ähnlich ist.

Was erfahren wir über die Mechanismen der Macht an den Höfen von Ludwig XV. und Ludwig XVI., die unserer Zeit so ähnlich sein sollen?

Will man etwas erreichen, muss man den Rücken krumm machen und trotzdem charmant bleiben. Man muss zeigen, dass man fit ist und damit rechnen, für jede Schwäche bestraft zu werden. Das lässt sich kaum besser zeigen als in Versailles. Wir lesen von einem Börsencrash in Paris, wie der Krieg die Aktienkurse fallen lässt und Panik ausbricht. Dann schreibt der Herzog von der sogenannten Höllenthese eines französischen Finanzministers, die hochaktuell ist, die jeder Banker auch kennt, aber nicht ausspricht, und die besagt, dass jeder Staat ein- bis zweimal in 100 Jahren bankrott gehen muss, damit er seine Bilanzen wieder bereinigen kann.

Der Herzog von Croÿ schrieb aber nicht nur über Frankreich, sondern auch über Deutschland.

Das ist wirklich eine große Besonderheit, denn er ist einer der wenigen, der das getan hat. Wir finden bei ihm Schilderungen von deutschen Städten, Landschaften und Ereignissen, die wir so woanders nicht finden, wie die Kaiserkrönung Karls VII. Das ist fesselnd, wie ein ganz großer Film. Und wir lernen aus diesen Tagebüchern, entgegen den üblichen Klischees, dass Deutschland ein sehr wichtiger, zentraler und würdevoller Staat in der Mitte Europas war. Wir erfahren auch viel über seinen Alltag. Dass er oft krank war, sich das aber nicht anmerken ließ. Wie er Diät hält und mit seinen Enkeln Theater spielt. Es findet sich die große Politik in seinen Aufzeichnungen genauso wie das scheinbar Banale. Und das kurz vor der Französischen Revolution, das ist schon hochinteressant.

Obwohl in den Schriften des Herzogs keine Anzeichen zu erkennen sind, welch großer Umbruch bevorsteht.

Überhaupt nicht. Das ist auch für Historiker verblüffend. Alle merkten, dass sich langsam der Boden unter ihnen öffnete. Tausend Jahre monarchische Regierungsformen in Europa funktionierten nicht mehr richtig. Aber was für ein Blutbad da kommen würde, das konnte keiner ahnen. Der Herzog starb 1784, also fünf Jahre vor der Revolution und schreibt darüber, wie ruhig es in Frankreich war.

Lassen sich die Tagebücher trotzdem als Abgesang auf das Ancien Régime lesen?

Nein, denn der Herzog wusste nicht, dass da etwas zu Ende geht. Er lebte wie wir in seiner Zeit. Niemand kam damals auf die Idee, man sei nicht mehr modern, gar überholt. Man war immer modern.

Was macht solche Tagebücher für uns so reizvoll? Ist es dieses „Live“-Element, das Gefühl, dem Chronisten fast schon über die Schulter zu schauen, während er von den großen Ereignissen, aber auch von Verdauungsproblemen schreibt?

Das Leben damals war farbiger. Das ist meiner Meinung nach ein ganz wichtiger Punkt für unser Interesse an solchen Tagebüchern. Unser Leben ist viel geordneter und viel weniger frei. Damals war der Mensch erheblich individualistischer, denn der Staat kontrollierte nicht alles. Damals konnte man verschwinden. Es gab verrückte Gestalten, es gab Schlösser und Burgen, in denen Halbwahnsinnige hausten. Man veranstaltete Feste, von denen wir nur träumen können.

Das klingt jetzt aber doch sehr verklärend.

Nein, nicht dass wir unbedingt tauschen wollen. Das Lesen dieser Tagebücher ist wie ein Schlendern durch ein Märchenland. Aber wer damals in die Welt zog, war ein freier Mann. Das gibt es heute so nicht mehr.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Hans Pleschinski stellt „Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ 1718-1784“ an diesem Sonntag um 11 Uhr in der Villa Quandt in der Großen Weinmeisterstraße 46/47 untermalt mit Bildern und Musik vor. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro

Hans Pleschinski, geboren 1956, lebt als Schriftsteller (u.a. „Brabant“ 1995) und Übersetzer (u.a. Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen 1992) in München.

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