
© HOT/HL Böhme
Kultur: War früher wirklich besser?
Mehr als „aha, Diktatur“: Alexander Nerlich inszeniert Huxleys Klassiker „Schöne neue Welt“
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Die „Schöne neue Welt“ beginnt in der alten. Zumindest für einen Teil des Publikums. Es wird an diesem Abend im Hans Otto Theater nämlich in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine verschwindet vor Beginn durch eine den Zuschauern sonst verschlossene Tür in die Hinterbühne. Die andere sitzt jetzt im Hochparkett des Saals, den Blick auf einen erdverstaubten Bühnensteg gerichtet, der in die Zuschauerreihen ragt. Ein penetrantes Fliegensummen liegt in der Luft. Auf der Bühne steht vor dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang ein altes Auto. Außerdem ein versiffter Kühlschrank, darauf Kerzenstümpfe: eine Art Altar. Daneben, den Kopf auf dem Boden im Staub, bewegungslos ein Mensch. Ein Toter? Ein Weilchen passiert nichts. Nur die Fliege summt.
Es ist ein starkes, atmosphärisch dichtes Anfangsbild, das Alexander Nerlich für seine Inszenierung des Klassikers von Aldous Huxley (Bühnenfassung Robert Koall) gefunden hat. Die Fliege, die Stille, das Nichtstun: Dinge, die die neue Welt abgeschafft hat. Diese neue Welt ist bei Huxley die herrschende Weltordnung. Nach einer Periode globaler Kriege hat sie die alten Systeme abgelöst. Nachher werden wir hinter dem Eisernen Vorhang auch diese Welt erleben: statt Fliegen Sterilität, statt Stille Unterhaltung, statt Nichtstun Aktionismus (vor allem sexueller). Tja, war es früher, in der alten Welt, nun besser? Es ist ein kluger dramaturgischer Kniff, dass das Publikum beide Seiten getrennt voneinander kennenlernt: So hat, vor allem wer das Buch nicht kennt und bei der neuen Welt sofort „aha, Diktatur!“ denkt, tatsächlich die Chance, beide Welten unvoreingenommen zu besuchen. Denn auch wenn die neue Welt in Aldous Huxleys 1932 veröffentlichtem Roman gemeinhin als Dystopie, als Warnung vor Massenideologien, gelesen wird, ist der gerne gemachte Kurzschluss, die alte Welt sei eben doch die schönere, zu einfach.
In den Resten der alten Welt erhebt sich auf der Vorderbühne jetzt der Tote, der keiner ist, aus dem Staub: John (Eddie Irle), geweckt von einem klägliches Wimmern aus dem Auto. Ein Baby, ein Tier? Es ist Linda, seine verzweifelte Mutter (Melanie Straub). John wiegt den Wagen, das Wimmern verstummt kurz. John rezitiert seinem Schlafsack „Romeo und Julia“-Verse. Er küsst ihn inniglich. Als die Mutter später bewusstlos betrunken ist, küsst er sie genauso. Die alte Welt ist hier keine schöne. Sondern eine einsame, sehnsuchtsgeplagte, traurige. Als Bernard (Florian Schmidtke) und Lenina (Franziska Melzer) eine Stippvisite aus der neuen Welt herübermachen, bestaunen sie zuerst einige faltige Gesichter im Publikum: „Die Armen!“. Alter ist nicht effizient, gibt es in der neuen Welt nicht.
Hinterm Eisernen Vorhang erfahren wir in Teil zwei des Abends, wie die neue Welt tickt: eine Maschine. Jedes Teil (Menschlein) hat seine Funktion, seinen festen Platz darin. „Stability, Identity, Community“ lautet das Credo. Menschen werden in Brutkästen in beliebiger Anzahl gezüchtet, die gewünschte Intelligenz lässt sich durch Sauerstoffzufuhr bei den Embryos regeln: je weniger, desto dümmer. Institutsdirektor Henry Forster (Michael Schrodt) persönlich stellt sein dauerlächelndes Team vor, das erst ein neues Wesen zum Schlüpfen bringt (Luana Rossetti) und nach getaner Arbeit plangemäß kopuliert (anmutig ins Tänzerische abstrahiert: Choreografie Anja Kozik). Keine Liebe, sondern Sex. Jeder gehört jedem. Auch das sind Credos der neuen Welt. Bücher sind verboten.
John, der in der „Zone“ mit Shakespeare aufwuchs, passt hier nicht hin. Aber er glaubt, in Lenina seine Julia gefunden zu haben und folgt ihr in die neue Welt. Nach der Pause sammelt sich das Publikum zum Finale im Großen Saal. Dieses Finale ist die Vermischung von Alt und Neu und auch inszenatorisch ein erstaunliches Zwitterwesen. Johns staubige Karre, die er selbst auf die Bühne schiebt, sieht zwischen den keimfreien Kuben der neuen Welt aus wie ein Requisit aus dem falschen Film. Überhaupt wird hier immer wieder filmisch überhöht, wechseln sich Erzählrhythmen und -temperaturen in Windeseile: Wenn Lenina sich – jetzt wird verführt! – in zarter Persiflage ihre Löckchen zurechtrückt, dann folgt die angemessene watteweiche musikalische Beschallung. Wenig später holt John zu einem ernsten, tatsächlich berührenden Schauspieltheater-Monolog aus, klettert als Julia im zerschlissenen Kleid durch die Bühne.
Passt das alles zusammen? Kaum. Nerlichs „Schöne neue Welt“ ist disparat, und will es wohl auch sein. Die Wartezeiten zwischen den Ortswechseln führen dazu, dass der Abend spürbar in Einzelteile zerfällt. Warum ist das trotzdem nicht ärgerlich, nicht ermüdend, sondern nachhaltig verstörend? Erstens: Die Spieler dieser auseinanderdriftenden Welten sind alle ungemein stark. Eddie Irle hat seinen großen Auftritt als äußerlich kraftstrotzende, innen zarte Seele. Vor allem Melanie Straub als zerbrechlich-komische Untergangsgestalt Linda und Franziska Melzer als unter beherrschtem Püppchengehabe bebendes Beta-Mädchen Lenina sind meisterhaft traurig-komisch. Zweitens: Wenn am Ende der Eiserne nach unten rollt und John, allein, uns anstarrt, wissen wir immer noch nicht, in welcher der beiden Welten wir heute eigentlich leben. Lena Schneider
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