
© Phile Deprez/promo
Kultur: Warum hat sich der Wald entkleidet?
Nackte Frauen und nackte Wälder: „Solitudes Duo“ und „We don’t speak to be understood“ bei den 25. Tanztagen
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Eine Kunst, die relevant sein möchte, beschäftigt sich entweder mit den großen Fragen oder mit den großen Gefühlen. Manchmal, und vielleicht sind das die Momente, die in der Kunst funktionieren, die irgendwie größer sind als der Moment selbst, auch mit beidem. Doch bleiben wir vorerst bei den großen Gefühlen. Einsamkeit ist eines davon. Es gibt sie in mannigfaltigen Spielarten. Die Künstler lieben sie dafür, und zu Recht. Denn oft geht es, wo es um Einsamkeit geht, auch um andere Dinge. Wo sie herkommt zum Beispiel, und warum sie oft gerade dann so groß ist, wenn es sie gar nicht geben dürfte. Wenn einsam sein nicht allein sein bedeutet, wenn sich Einsamkeit in der Zweisamkeit breitmacht.
Das Stück, das der kanadische Choreograf Daniel Léveillé am Mittwoch bei den 25. Potsdamer Tanztagen in der fabrik präsentierte, findet die Thematik so wichtig, dass es die Einsamkeiten im Titel trägt. „Solitudes Duo“ heißt es, eine Deutschlandpremiere. Das Thema ist nicht neu für den Choreografen. Seine Vorgängerarbeit, „Solitudes Solo“, wurde in Kanada zur besten Choreografie 2012/2013 gekürt. Jetzt also die doppelte Einsamkeit: In sechs Teilen schickt Léveillé je zwei Tänzer auf die Bühne. Dazu gibt es Musik: Bach, The Doors, The Beatles. Es sind Variationen immer der gleichen Situation: Zwei nähern sich, umtänzeln, berühren, bespringen, bekriegen, beruhigen und verlassen einander. Mal zwei Männer, mal zwei Frauen, mal Mann und Frau.
Daniel Léveillé hat sich in den frühen 2000er-Jahren viel mit Nacktheit beschäftigt, ist im Programmheft zu lesen. In „Solitudes Duo“ ist davon übrig, dass die Frauen größtenteils oben ohne tanzen. Wenn die Idee ist, dass sie dadurch zerbrechlicher wirken, dann geht die Idee auf. Die Männer dagegen tragen farbige Unterhosen. Vielleicht ist es ja auch profaner, und die Idee ist einfach ein bisschen mehr Sexappeal auf der Bühne. Immerhin umspielt jeder der sechs Teile mehr oder weniger deutlich verschiedene Liebespositionen. Da kommt ein bisschen Extrahaut gut. Und sicher, immerhin lässt sich behaupten, so würde deutlich, wie dünn die Membran ist, die zwei Menschen trennt. Da entstehen schnell Schürfwunden (auch auf der Bühne). Und näher kommt man sich dadurch manchmal trotzdem nicht.
Das schreibt sich einleuchtend dahin, und vielleicht war es wirklich so gedacht. Aber zu sehen ist davon in „Solitudes Duo“ wenig. Zu sehen sind Hebefiguren, Sprünge, angedeutete Karate-Tritte, zur Faust geballte Hände, Körper, die sich aneinanderschmiegen, Körper, die kauern. In weniger gelungenen Momenten Körper, die sich zum Dirty Dancing finden. In gelungeneren Momenten Körper, die Berührungen des anderen abschütteln, als seien sie lästige Gedanken. Manchmal wirken die Bewegungen ungelenk, manchmal trotzig, dann entsteht so etwas wie Komik. Aber: Die Bewegungen erzählen nichts, setzen nichts frei. Sie illustrieren. Sie illustrieren die Musik. Irgendwann hat man das verstanden und lauscht mehr, als dass man schaut. Bach, The Doors, The Beatles. Wieder Bach. Wenn der Song vorbei ist, ist der Tanz vorbei. Dann die nächste Nummer. Stille gibt es nicht. „Music is your only friend / Dance on fire as it intends / Music is your only friend“, singt Jim Morrison zwischendrin. Recht hat er. In dieser Choreografie macht sich die Musik zum wichtigsten Freund. Die Körper kommen da nicht mit. Sie ackern der Musik hinterher.
Interessanter ist da die Frage, die am Anfang von „We don’t speak to be understood“ des belgischen Duos Pieter Ampe und Benjamin Verdonck im T-Werk steht. Keine der großen Fragen, aber doch wesentlich, vorgebracht im weichen flämischen Akzent und der somnambulen Buster-Keaton-Sanftheit des Theatermachers Benjamin Verdonck. „Warum hat sich das Wäldchen in Erwartung des Schnees schon entkleidet?“ Tja, warum? Da kann man nur, fast unmerklich, die Schultern heben. Und man kann Vivaldi konsultieren, der den Verlauf der Jahreszeiten bekanntlich auf sehr eindrückliche Weise gemeistert hat. Also legt Verdonck eine Platte auf („Die vier Jahreszeiten“), lockt seinen zausebärtigen Kumpel Pieter Ampe aus dem Kühlschrank und wartet ab, was passiert.
Was folgt, sind durch den Dada-Fleischwolf gezwirbelte Spielarten des Pas de deux rund um die Themen Temperatur und Wechsel. Unter zwischen Entsetzen und Erwartungsfreude pendelndem Geraune des Publikums fließt Honig vom Mund des einen in den Mund des anderen, um dann im eindrucksvollen Bart von Pieter Ampe kleben zu bleiben. Was Letzteren im richtigen Scheinwerferlicht einen Moment lang tatsächlich wie einen Sonnengott aussehen lässt. Es wird ein Toaster angeworfen, aus dem es später ordentlich qualmt. Es werden Blubberblasen gegurgelt. Es werden Windmaschinen betätigt. Es rieselt Schnee. Es wird ein Ja-Ja-Nein-Nein-Duett gesungen, zu Vivaldi selbstverständlich. Hoppla, war das schon wieder der Frühling? Irgendetwas stimmt nicht im Ablauf der Jahreszeiten. Sie wiederholen sich, und zwischendrin hängt die Platte.
Am Ende gerät der Dada-Dampfer in Seenot. Der überdekorierte Weihnachtsbaum kippt zur Seite, die Nebelmaschine nebelt die Bühne zu. Ein Kreislauf scheint durchbrochen. Auch Vivaldi weiß nicht mehr weiter, deswegen jetzt: „We are the World“. Große, mit viel Hingabe zitierte Weltverbesserergesten des Pop. Dann, und so schwingt sich dieser kleine Performanceabend dann doch noch zu großer Klimakritik auf: verqualmte, desolate Stille. Anders als „Solitudes Duo“ hat „We don’t speak to be understood“ wirklich etwas zu sagen.
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