Kultur: Was bleibt, ist Erinnerung
Katja Lange-Müller stellt am Sonntag ihren Roman „Böse Schafe“ in der Galerie Kunstraum vor
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Erinnerung täuscht Gegenwart des Gedächtnisses vor, hat der israelische Dichter Elazar Benyoëtz in einem Gedicht geschrieben. Und, dass Erinnerung vergessen macht.
Soja lebt Erinnerung. Sie hat eine Art Tagebuch, in dem 89 Sätzen von Harry stehen. Es sind Sätze aus der Zeit, als sie mit Harry zusammenlebte. Doch obwohl Harry sich über ihre Freunde auslässt, über andere Menschen schreibt, fällt ihr Name nie. Soja rätselt über die Gründe für das Fehlen ihres Namens. Sie befragt ihre Erinnerung, denn Harry kann sie nicht mehr fragen. Harry ist schon lange tot.
In ihrem Roman „Böse Schafe“ erzählt Katja Lange-Müller die Geschichte von Soja und Harry. Eine Geschichte über die Erinnerung an eine illusionslose Liebe, die auch eine Geschichte über die Stadt West-Berlin und ihre Bewohner Ende der 80er Jahre ist. Am Sonntag kommt Katja Lange-Müller in die Galerie Kunstraum, um aus „Böse Schafe“ zu lesen.
Soja, Ende 30, aufgewachsen im Ostteil von Berlin und erst seit ein paar Jahren im Westen, begegnet Harry auf der Straße. Eine Zufallsbekanntschaft, der jegliche romantische Einfärbung fehlt. Doch vom ersten Augenblick an ist da etwas zwischen den beiden. Für Soja ist es Liebe. Was es für Harry ist, bleibt unklar. Seine Tagebuchaufzeichnungen geben keine Auskunft. Sie zeigen Soja nur, dass der Harry, der die 89 Sätze geschrieben hat, ein anderer war, als den sie zu kennen glaubte.
Soja ist keine Träumerin. Sie versucht ihr Leben nur soweit einzurichten, dass wenigstens ein paar Annehmlichkeiten abfallen. Sie ist aber nicht desillusioniert, nur pragmatisch. Ein regelmäßiger Besuch bei einem Freund, um dort die Badewanne nutzen zu können, gerade genug Geld zu haben für die Kneipenbesuche und den Wein, den sie in rauen Mengen konsumiert. Und Sex. Da jagt sie aber keinem Traumprinzen nach. Sex hat bei ihr nichts mit dem Herzen zu tun. Sie hat Spaß an dem körperlichen Rausch. Das Gute daran ist, sie hat danach keinen schweren Kopf wie nach einer ausgiebigen Zechtour. Das weniger Gute ist, Männer sind nicht immer so einfach zu bekommen wie eine neue Flasche Wein.
Harry ist drogensüchtig und gerade auf Bewährung draußen. Er hat mehrere Jahre wegen schweren Raubes hinter Gittern verbracht. Nun versucht er, seine Sucht in den Griff zu bekommen, die Auflage für seine Bewährung. In Soja findet er den Menschen, der ihm bei seinen Therapiebemühungen aufopferungsvoll unterstützt.
Mit einem selbstironisch, distanzierten Ton, in dem aber immer wieder auch das Staunen über dieses kleine Wunder einer illusionslosen Liebe anklingt, erzählt Katja Lange-Müller die Geschichte von Soja und Harry. Katja Lange-Müller beschreibt die Menschen dabei weniger über Äußerlichkeiten. Sie beschreibt sie durch ihre Handlungen, ihr Verhalten. Und Soja im Auf und Ab ihrer Gefühlswelt: Der Zwiespalt, in dem sie sich befindet, ob Harry sie nur ausnutzt oder doch Liebe für sie empfindet. Der Horror, der sie befällt, als sie erfährt, dass Harry an Aids erkrankt ist. Harrys falsches Spiel, in dem er nur vorgibt, seine Sucht bezwingen zu wollen, in Wirklichkeit aber damit beschäftigt ist, sein Doppelleben zu verheimlichen. Katja Lange-Müller zieht den Leser unmerklich in diesen wirren Strudel der Geschehnisse, bis man selbst am Tisch in Sojas Küche im ranzigen Moabit sitzt, auf die leeren Weinflasche starrt, den ständig Sprüche von sich gebenden Harry beobachtet und das Tropfen aus der Duschkabine hört. Das West-Berlin und seine Bewohner in Katja Lange-Müllers Roman ist eher eine trostlose Kulisse, auf die nur gelegentlich die Sonne scheint. Wäre „Böse Schafe“ ein Film, er dürfte nur in Schwarzweiß gedreht sein.
Am Ende ist für Soja die Frage, ob Harry sie geliebt hat oder nicht, zu einer Nebensächlichkeit geworden. Ihre Erinnerungen haben ihr gezeigt, dass ihre Gefühle mehr zählen als die damit verbundenen Zweifel.
In seinem Gedicht hat Elazar Benyoëtz auch geschrieben, Erinnerungen halten alles ein, was man sich je versprochen hat. Ganz so einfach macht es Katja Lange-Müller der Soja in „Böse Schafe“ nicht. In ihren Erinnerungen stellt sie sich immer wieder ihrem Hoffen, ihren Wünschen, obwohl sie weiß, dass diese scheitern werden. Aber diese Erinnerungen sind, neben dem Tagebuch mit den 89 Sätzen, das Einzige, was sie an diese einmalige Liebe erinnern.
Katja Lange-Müller liest aus „Böse Schafe“ am kommenden Sonntag, 17. Februar, ab 16 Uhr in der Galerie Kunstraum, Schiffbauergasse. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 4 Euro.
Dirk Becker
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