Kultur: Was sich in den Familien ablagert Filmgespräch zu
„Wer wenn nicht wir“
Stand:
Die Großaufnahme eines Vogelnestes, an das sich eine Katze anschleicht. Sie wird einen der Jungvögel fressen und der Vater erschießt die Katze, die der Junge liebt. Einige Szenen später erklärt er seinem Sohn: „Die Katzen sind die Juden unter den Tieren, sie passen nicht zu uns“.
Es ist das Jahr 1949, der Junge heißt Bernward Vesper und ist der Sohn des völkischen Dichters Will Vesper. Am Ende des Films „Wer wenn nicht wir“ wird er in der Psychatrie einem Arzt diese erinnerte Kindheitsverletzung vorlesen: Sie ist Bestandteil seines gut 20 Jahre danach entstandenen Romans „Die Reise“, der zum Kultbuch einer Generation wurde, der die vom Faschismus kontaminierten Väter mit ihrem Schweigen darüber buchstäblich in den Knochen saßen.
„Wer wenn nicht wir“, der erste Spielfilm von Regisseur Andres Veiel, war am Dienstagabend im Filmmuseum in der Reihe „Aktuelles Potsdamer Filmgespräch“ zu sehen. Der Film untersucht die Vorgeschichte der RAF, er begibt sich in das „Ursachendickicht“ (Andres Veiel), das Bernward Vespers und Gudrun Ensslins, aber auch Andreas Baaders Lebenswege bestimmte und zum Deutschen Herbst führte.
In den Dokumentarfilmen „Blackbox BRD“ etwa oder „Der Kick“ hat sich Andres Veiel bereits oft mit Gewalt, Radikalisierung und Terrorismus beschäftigt, die seine Werke wie ein roter Faden zu durchziehen scheinen. Auf die Frage von Moderatorin Christine Handke, was ihn dazu bringe, diese Themen immer wieder zu bearbeiten, sagte er: „Das sind eigene Fragen in Bezug auf die Geschichte meiner Biografie, eine Gewordenheit von historischen Traumatisierungen, die sich in unserer Familie abgelagert haben. Und die Frage, was in der nächsten Generation damit passiert. Was wird weitergegeben, welche Möglichkeiten des Entkommens gibt es?“ Insofern bedeutet das Thema RAF nicht nur ein Stück politischer Gewalt für ihn, er sieht es immer auch in einer bestimmten historischen Tradition, als eine Antwort auf einen Abschnitt deutscher Geschichte. Andres Veiel interessiert daran, in einem größeren Kontext bestimmte historische, persönliche, individuelle und biographische Erfahrungen zu deuten und in diesem Kontext Politisches und Persönliches zusammenzubringen. Auch deshalb beleuchtet er mit eingeschnittenem Archivmaterial wie mit Schlaglichtern die prägenden gesellschaftlichen und politischen Ereignisse der frühen 60er Jahre: Der Prozess gegen Adolf Eichmann, die Kuba-Krise, der Vietnam-Krieg, die Proteste beim Schah-Besuch in Westberlin.
Der Regisseur fand in dem 2003 erschienen Sachbuch von Gerd Koenen „Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“, in dem die Figuren von Gudrun Ensslin, aber auch von Bernward Vesper für ihn in vieler Hinsicht neu geschildert wurden, viele „Treibsätze“, um sich mit der RAF zu beschäftigen. Da ihn aber die Arbeit am bereits geplanten „Kick“ lange gefangen nahm, dauerte es bis zur Realisierung von „Wer wenn nicht wir“ noch acht Jahre. In Vorbereitung des Films recherchierte er selbst umfangreich, sprach mit über 40 Zeitzeugen und stand schließlich vor einem „Konvolut, aus der man einen fünf- bis sechstündigen Film hätte machen können“, so Veiel.
Sehr unterschiedlich, so der Filmemacher, war die Arbeit mit den drei fantastischen Hauptdarstellern August Diehl als Bernward Vesper, Lena Lauzemis als Gudrun Ensslin und Alexander Fehling als Andreas Baader. Während er mit August Diehl alle Szenen durchprobierte und die Figur wie auf einer Landkarte ausmaß, ging Alexander Fehling davon aus, dass zu viel Wissen die Rolle verkopft und reagierte ganz aus der Situation. Und Lena Lauzemis wiederum identifizierte sich sehr mit der Figur und begann ein Jahr vorher zu lesen, um Gudrun Ensslin auch in der intellektuellen Kapazität nahe zu kommen. Gabrielle Zellmann
Gabrielle Zellmann
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