Kultur: Weg von Scham und Beschnüffelung Adrienne Goehler ist heute im Filmmuseum
Heute findet innerhalb einer Veranstaltungsreihe des Filmmuseums und der FH zum Thema Arbeit ein Gespräch mit Adrienne Goehler, der ehemaligen Kultursenatorin Berlins, statt (19.30 Uhr Filmmuseum).
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Heute findet innerhalb einer Veranstaltungsreihe des Filmmuseums und der FH zum Thema Arbeit ein Gespräch mit Adrienne Goehler, der ehemaligen Kultursenatorin Berlins, statt (19.30 Uhr Filmmuseum). Sie plädierte in ihrem Buch „Verflüssigungen“ dafür, den Sozialstaat in eine Kulturgesellschaft überzuleiten.
Was kann man sich darunter vorstellen?
Unsere Gesellschaft hat einen Paradigmenwechsel erfahren. Arbeitslosigkeit ist nicht mehr nur für sozial schwache Schichten ein Problem. Immer mehr Künstler leben unterhalb des Existenzminimums und immer mehr Akademiker sind in Ein-Euro-Jobs beschäftigt: bereits 400 000. Das kann sich eine Gesellschaft, die dringender denn je den Rohstoff Kreativität braucht, auch um ökonomisch wettbewerbsfähig zu sein, nicht leisten. Deshalb plädiere ich dafür, dass jeder ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält. Darüber hinaus bleibt Zeit, in stärkerem Maße projekt- und teamorientiert zu arbeiten. Das würde eben nicht nur bei Künstlern Kreativität freisetzen.
Welche Größenordung schwebt Ihnen beim Grundeinkommen vor?
Nehmen wir eine Summe zwischen 600 und 800 Euro an, das entspräche etwa den gegenwärtigen Sozialausgaben. Aber ich bin keine Ökonomin. Verschiedene, konkurrierende Forschungsteams müssten von der Bundesregierung eingesetzt werden, um das genau zu berechnen. Das kann nicht die Aufgabe von ein paar Mitarbeitern der Regierung sein. Man kann sich nämlich schnell totrechnen, wenn man etwas verhindern will.
Und Sie glauben, dass die Politik da nicht sehr aufgeschlossen ist?
Gegenfrage: Was glauben Sie, wie viele Menschen heute noch in der klassischen Volltagsarbeit von 9 bis 17 Uhr tätig sind?
Vielleicht 50 Prozent?
Gerade mal 13 Prozent, das heißt, die Bundesregierung macht eine Arbeitsmarktpolitik für eine Minderheit. Die Lebens- und Arbeitstätigkeiten vieler Menschen haben sich radikal verändert. Das berücksichtigt das politische Denken heute noch viel zu wenig. Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf sagte 1982, dass die Politik aus Machterhalt an der Illusion von Vollbeschäftigung festhält.
Aber die Arbeitslosenzahlen sprechen doch ohnehin ihre eigene Sprache.
Schon, aber die Politik will sich ihr eigenes Herrschaftssystem über die Verteilung von Arbeit nicht wegnehmen lassen.
Und welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihre Vorschläge in der Praxis?
Ganz viele Menschen bejahen sie, vor allem Sozialhilfeempfänger. Mit einem sicheren Grundeinkommen müssen sie sich nicht mehr ausschnüffeln und berechnen lassen. Die Angst, Kinder in die Welt zu setzen und für sie nicht sorgen zu können, wird reduziert und viele Freiberufler, die ihre Existenz kaum decken können, würden ganz anders da stehen. Wir brauchen einen anderen Zugang, denn der Sozialstaat implodiert. Hartz IV ist zum Synonym für Scham und Entwertung geworden und viele gesellschaftlich notwendige Arbeiten liegen brach. Deshalb müssen wir ein Stück tote Arbeit von der Republik wegnehmen und die Ausgaben für Bürokratie anders verflüssigen. Es tut der Gesellschaft nicht gut, wenn ein Mensch über einen anderen entscheidet, ob er etwas kriegt oder nicht.
Sind Sie eine Alleinkämpferin?
Nein, denn die Leute brennen für die Idee eines Grundeinkommens, und das Brennen für eine Idee ist doch ziemlich eingeschlafen in unserem Land, oder? Die Diskussion über das Grundeinkommen hat sich explosionsartig verändert, als sich Drogeriemarkt-Besitzer Goetz Werner ebenfalls dazu bekannte. Vorher war es nur ein akademisches Thema, jetzt ist es populär. Es geht um Würde und die Entfesselung der eigenen Kräfte. Trotz aller fröhlichen Aussagen zur Konjunktur sind die Menschen weiter von Angst um ihre Zukunft geplagt. Und Angst ist nicht der beste Ratgeber für kreative Lösungen. Das jetzige System hat genug Leute zerstört. Wir brauchen ein Umdenken.
Und wird sich der Mensch aus eigenem Antrieb mobilisieren?
Ich gehe davon aus, dass er auf Resonanzen ausgelegt ist. Der Mensch will nützlich sein, gestalten, gebraucht werden.
Das Gespräch führte Heidi Jäger.
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