Kultur: Weihespiel und Liebestod
Murnaus „Faust“-Stummfilm mit dem Willem-Breuker-Kollektief
Stand:
Melancholisch wimmert die Mundharmonika, als Bruder Valentin sein Leben aushaucht. Mephisto erstach ihn hinterrücks. Dies ist nicht die einzige Missetat des teuflischen Verführers. Aus lauter Diensteifrigkeit gegenüber Faust hat er zuvor den Bräutigam der Herzogin von Parma ermordet. Auch als Gretchen mit ihrem Kind durch eine eisige Schneelandschaft irrt, klingt die Mundharmonika. Sie singt ein Lied vom Tod, allerdings nicht im gleichnamigen Western, sondern zum „Faust“ von Friedrich Wilhelm Murnau.
Der parodistische Einfall gehört zur Neuvertonung von Willem Breuker. Was nicht ohne Zufall wie eine Reminiszenz an ein Jahrhundert Kinomusik erscheint, ist nur eines von vielen prägnanten musikalischen Motiven. In neuem Licht erscheint Murnaus Stummfilm aus dem Jahr 1926 bei der deftig-jazzigen Begleitung des zehnköpfigen Willem-Breuker-Kollektief. Neben Ennio Morricone, Schöpfer der Musik von „Spiel mir das Lied vom Tod“, nennt der Willem Breuker, der selbst nicht in den Nikolaisaal kommen konnte, Duke Ellington, George Gershwin und Kurt Weill als Vorbilder. Klassische Jazz-Rhythmen, knackige Blechbläser, Klavierakkorde und Schlagzeug bestimmen den mitreißenden Film-Sound, der die sentimentale Filmstory mitunter ironisch konterkariert.
Mit diesem Faustfilm bewies F.W. Murnau seine Eignung als zukünftiger Hollywood-Regisseur ohne Fehl und Tadel. Deutlich zeigt sich, dass kein anderer die Kunst der visuellen Attraktionen so gut beherrschte. Feuerkreise, fliegende Mäntel, Verwandlungen, Visionen und andere Zaubereien konnte Murnau schon lange vor der Digitalisierung des Films verblüffend glaubhaft ins Bild setzen. Doch hinter der Raffinesse von Tricktechnik, beweglicher Kamera, Bildaufbau und Montage bleiben die Leistungen der Schauspieler zurück. Emil Jannings gibt einen koboldhaft-schmierigen Mephisto, Gösta Ekman wirkt als alter Faust wie ein Heiliger, als junger Liebhaber blässlich und glatt. Camilla Horn spielt das Gretchen als junge Naive, zeigt jedoch in den Verzweiflungsszenen durchaus Intensität. Gretchen wird bei Murnau, der seine Filmbilder wie Gemälde komponiert, zur Mater dolorosa, der schmerzensreichen Mutter. Bis zum Augenaufschlag und den Kopftuchfalten gleichen Kostüm und Mimik den berühmten künstlerischen Vorbildern, etwa Michelangelos Pietà. Ein weiterer Pate ist Charles Gounods Oper „Margarethe“. Nicht zuletzt in den eindrucksvollen Szenen, als Gretchen mit ihrem Kind durch die Schneelandschaft irrt und abgewiesen wird wie einst Maria und Joseph, zeichnet sich viel religiöse Erbauungspoesie. In einer tödlichen Vision legt sie ihr Kind zur letzten Ruhe -– in eine Krippe. Reichlich fantasievoll haben F. W. Murnau und sein Drehbuchautor Hans Kyser die abgründige Faustsage als mystisches Weihespiel interpretiert – und einen veritablen Liebestod gleich noch dazu inszeniert. Am Scheiterhaufen ruft Gretchen Faust herbei. Er kommt, aber in der Gestalt des Alten, da er seine von Mephisto verliehene Jugend verflucht und verloren hat. Erst in letzter Minute erkennt Gretchen ihren Herzensbrecher, der sich nun auch zu ihr bekennt. Gemeinsam vollenden sie ihr Leben in den Flammen und steigen gen Himmel auf. Dazu leuchtet ein feuriges, strahlenbekränztes Herz mit dem Wort „Liebe“ auf. Glücklicherweise hat Willem Breuker mit seiner fetzigen Jahrmarktmusik in den süßen Plunder geradezu unverschämt frische Luft geblasen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: