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Kultur: Weltenwechsel

Ingo Schulze und Sigrid Löffler in der Reithalle A

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Diesem knuffigen Typ mit dem Lockenbob traut man die Gehässigkeiten gar nicht zu. Neben dem Autoren Ingo Schulze, der da am Donnerstagabend in der Reithalle A sympathisch und bescheiden aus seinem lang ersehnten Roman „Neue Leben“ las, gibt es auch den Herausgeber Ingo Schulze, jene fiktive Figur gleichen Namens. Sie ist dem Helden des Buches, Enrico Türmer, dessen Briefe er editiert, in pedantischer, teils bösartiger und besserwisserischen Weise verbunden. Dieser Ingo Schulze nun tobt seine offensichtlichen Vorbehalte gegenüber dem romantischen Schelm Türmer vorzugsweise in den Fußnoten aus. Die Kommentare des Herausgebers Schulze nagen beträchtlich an der Glaubwürdigkeit des Helden, immer bedacht, Schwindel und Widersprüche aufzudecken. Eine Subversion, ein handwerklich meisterhafter Trick des Autoren Schulze, leisen Humor zu zeigen.

Die Anlage des Buchs klänge kompliziert, sagte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Sie führte in die vom Brandenburgischen Literaturbüro und Carsten Wist organisierte, gut besuchte Veranstaltung ein. Dieses „komplexe Bauprinzip“ stelle aber kein Hindernis für den Leser dar. 790 Seiten, fast ein Kilo schwer. „Neue Leben“ erzählt in epischer Breite vom „Weltenwechsel“, wie Schulze die Zeit gerne nennt, zwischen Januar und Juli 1990. Die Schwindel erregenden Monate vor dem Beitritt zur Bundesrepublik, in der langsam die „Zahlenwelt des Westens die Wortwelt der DDR“ eroberte, so der Autor.

Sigrid Löffler, auch Herausgeberin der Zeitschrift Literaturen, gelang eine umfassende und unterhaltsame Einordnung der Romankonstruktion. Türmer leide wohl an einem doppelten Verlust. Dem verhinderten Dissidenten-Schriftsteller fehle plötzlich mit der DDR sein Lebensthema, und mit dem Bekanntwerden der wahren Bundesrepublik wäre sein Traum vom Westen, in dem sogar das Benzin nach Parfüm rieche, zerstoben.

„Dann kann ich ja gleich anfangen zu lesen“, bemerkte Schulze, der sonst nach Einführungen immer noch etwas zufügt. Und so liest er die an die West-Geliebte Nicoletta gerichteten Erklärungen von Türmer, wieso die Begrüßung der Großeltern zu Weihnachten am Neustädter Bahnhof in Dresden den Höhepunkt jedes Festes ausmachte. Wegen der vom Westbesuch mitgebrachten Geschenke. Kaba- und Caro-Dosen, die auch leer noch im Keller gehortet wurden. Er liest von Türmers Erweckung zum Schriftsteller, der mit 14 Jahren etwas gegen die Langeweile unternehmen wollte.

Die literarischen Ambitionen des Romanhelden und sein Scheitern waren dann auch Thema im anschließenden Autorengespräch. Einigkeit herrschte zwischen der Kritikerin und Schulze über die „Kanonentwertung“, die sich nach dem Ende der DDR vollzog. Der Reputationsverlust vieler ostdeutscher Schriftsteller durch die Wende – Christa Wolf brauchte zehn Jahre, um wieder Gehör zu finden, sagte Löffler – spiegelt sich in Türmers Erfahrungen. „Neue Leben“ ist auch ein Buch über die Bedingungen, denen das Schreiben jeweils unterliegt. Schulze wies darauf hin, dass 1990 der Brief aus Mangel an Telefonen für kurze Zeit tatsächlich ein wichtiges Kommunikationsmittel war. Der Autor Schulze erfand für seine Figur Enrico Türmer die Überzeugung, zu leben, um zu schreiben. „Er hat die Situation in der DDR gebraucht, um produktiv zu sein“, sagte er. Schulze selbst hält, anders als sein Held, diese Sicht für extrem fragwürdig: „Ich lebe und ich erzähle“, gelte für ihn.

Schulze wurde aus dem Publikum gefragt, ob denn Zuhörer im Westen das alles begreifen könnten, was er da aus der DDR erzähle, wenn er z.B. vom Druck berichte, dem 9.-Klässler ausgesetzt waren, wenn es galt, sich für die Wehrbereitschaft zu entscheiden. „Warum eigentlich nicht?“, assistierte Löffler, und Ingo Schulze verwies darauf, dass es ja nie die eine Lesart gebe. „Neue Leben“ sei ja vor allem auch ein Buch über den Westen – wie er in den Osten komme. Löffler ließ zum Abschied Schulze noch lächeln. Werde es eine Fortsetzung geben? „Nicht ausgeschlossen“, aber noch nicht im nächsten Jahr.

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