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Kultur: Wenn die Mauern fallen

Das Musikfestival „Vocalise“ bietet in diesem Jahr sechs Konzerte und einen Workshop

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Mit den Worten „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“ weist der Bass-Solist das Bedrohliche, das Schrill-Dissonante im vierten Satz in Beethovens 9. Sinfonie energisch zurück. Der Freudenhymne wird der Weg gebahnt. Daraufhin stimmt das große Ensemble mit Orchester, Solostimmen und Chor die Vertonung von Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ an. Breitenwirksam ist die Ausstrahlungskraft von Beethovens Musik, bis heute. Peggy Steiner (Sopran), Carolin Masur (Alt), Markus Schäfer (Tenor) und Raimund Nolte (Bariton), das Neue Kammerorchester Potsdam sowie die Potsdamer Kantorei werden Beethovens 9. unter dem Dirigat von Ud Joffe zur Eröffnung der diesjährigen „Vocalise“ am morgigen Samstag musizieren. Nicht in der angestammten Erlöserkirche, sondern erstmals in der Friedenskirche Sanssouci. „Dies ist Programm unseres Vocalfestivals 2014“, sagt der künstlerische Leiter Ud Joffe. „Der Oratorienchor Potsdam, der sonst in der Friedenskirche seine musikalische Heimat hat, singt in der Erlöserkirche.“ Joffe freut sich besonders, dass die Singakademie Potsdam die Einladung, bei der „Vocalise“ mitzuwirken, angenommen hat. Sie wird ihren Nikolaisaal verlassen und ebenfalls in der Erlöserkirche musizieren.

„Mauern fallen“ ist das Motto des Herbst-Musikfestes, das mit sechs Konzerten und einem Workshop aufwartet. Das bedeutende geschichtliche Ereignis am 9. November 1989, also vor 25 Jahren, war für den Veranstalter „Musik an der Erlöserkirche“ bei der Programmgestaltung maßgeblich: musikalisch sich an den Mauerfall erinnern und der Freude darüber Ausdruck geben, dass Widerstand und Bürgermut Grenzen sprengen können. „Leonard Bernstein dirigierte im Konzerthaus Berlin einen Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer die 9. als ein tönendes Bekenntnis für den Sieg der Freiheit. So ersetzte er die ,Freude‘ durch das Wort ,Freiheit‘“, sagt Ud Joffe. „Wir bleiben bei der ursprünglichen Fassung, denn sie ist Beethovens Kernaussage. Vor allem im letzten Satz ist die Aufforderung zur Freude unüberhörbar, gehört sie doch zu den Grundlagen unseres Lebens. Aus ihr entsteht die Fähigkeit zur Freundschaft und schließlich zur Brüderlichkeit, von der Schillers Ode an die Freude kündet.“

Ud Joffe kann man immer wieder Mut in der Programmgestaltung bescheinigen, bei der auch Heterogenes seinen Platz erhält. Im Eröffnungskonzert wird neben der Beethoven-Sinfonie das Berliner Requiem mit der Musik von Kurt Weill und Texten von Bertolt Brecht aufgeführt. Das 1928 für den Rundfunk geschriebene Werk sollte zum „Gedenktag für die Gefallenen des Weltkrieges“ am 22. Februar 1929 gesendet werden. Tod respektive Sterben ist in der Kleinen Kantate das Thema von Weill und Brecht. Doch nicht der Trost steht im Vordergrund, sondern die Anklage. Das Gemetzel des Ersten Weltkrieges und die Ermordung der Pazifistin Rosa Luxemburg stand ihnen deutlich vor Augen. „Das Ganze ist eine Folge von Totenliedern, Gedenktafeln und Grabschriften, also etwas wie ein weltliches Requiem“, schrieb Kurt Weill.

„Musik an der Erlöserkirche“ lädt immer wieder Künstler ein, die sich international einen Namen machen. So kommt am 13. November die Vocal-Group Voces8 in die Erlöserkirche. Das achtköpfige englische Ensemble hat sich mit seiner unkonventionellen Art des Auftritts und der Programmgestaltung in kürzester Zeit an die Spitze der A-cappella-Welt gesungen. Das Repertoire ist ebenso vielseitig wie sein Tourneekalender. Am 14. November wird Voces8 in der Erlöserkirche ein Ensemble-Workshop anbieten.

Am darauffolgenden Tag, am 15. November, sind die Singakademie Potsdam, das Neue Kammerorchester, die Solisten Christine Wolff (Sopran), Karin Lasa (Alt), Michael Zabanoff (Tenor), sowie Kai-Uwe Fahnert (Bariton) Gäste in der neugotischen Erlöserkirche. Unter der Leitung von Thomas Hennig musiziert der Klangkörper das Oratorium „Paulus“, ein Jugendwerk Felix Mendelssohn Bartholdys, das eine tiefe musikalische Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben bezeugt. Mendelssohn entstammte einer jüdischen Familie, die zum Protestantismus konvertierte. Insofern verarbeitete er im „Paulus“ auch ein Stück seiner eigenen religiösen Biografie.

Dem Komponisten Kurt Weill ist das Konzert am 20. November in der Erlöserkirche gewidmet. Das Neue Kammerorchester spielt neben der farbigen Musik zur Kinderpantomime „Zaubernacht“ das Ballett „Die sieben Todsünden“, deren Texte von Brecht stammen. „In dem 1933 in Paris uraufgeführten Werk wechselt ein wichtiges Thema des christlichen Moralkodex – die Todsünden – aus dem kirchlichen Raum ins Theater. Brecht und Weill hinterfragen die traditionelle Moralauffassung und verfahren mit ihr doppeldeutig“, so Joffe, der das Konzert dirigieren wird. Dem Komponisten ist zudem ein faszinierendes Panoptikum von Gefühlsregungen gelungen. Die Partie der Anna singt die Mezzosopranistin Michaela Lucas. Der Oratorienchor Potsdam und das Deutsche Filmorchester Babelsberg bestreiten am 22. November in der Erlöserkirche ein farbiges Programm zum Thema „Der Hirte“. Ausgehend vom 23. Psalm, der mit den Worten „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ beginnt, hat Kantor Joachim Walter chorsinfonische und rein orchestrale Werke des 20. Jahrhunderts ausgewählt: von Alexander Zemlinsky, Leonard Bernstein, Will Todd, Edvard Grieg und Samuel Barber.

Händel hat seine geistlichen Oratorien auch im Theater interpretiert, trotz des heftigen Widerspruchs von Teilen des Londoner Konzertpublikums. „Der Messias“ wird zum Abschluss der Vocalise in der Erlöserkirche aufgeführt. Der Neue Kammerchor Potsdam, das Neue Kammerorchester, Dana Marbach (Sopran), Regina Jakobi (Alt), Andreas Weller (Tenor) und Sebastian Noack (Bass) werden es unter dem Dirigat von Ud Joffe am 30. November zur Aufführung bringen.

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