
© Andreas Klaer
Schüler-Theater: Wenn die Teekanne zu leben beginnt
Puppenspielerin Nora Raetsch lädt zur Theaterwerkstatt „Schlafmützen & wilde Feger“ ins T-Werk ein
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Sie könnten Schwestern sein. Nora Raetsch schaut lächelnd auf die drei Kannen, die vor ihr auf dem Küchentisch stehen. Die Gefäße sind aus blauem Metall, durchsichtigem Glas und weißem Porzellan und für Tee, Wasser und Milch gedacht – also durchaus verschieden. Aber sie haben auch etwas gemeinsam. Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, wie aus den Tüllen Nasen werden. Und noch eine Fantasiedrehung weiter sind die Kannen plötzlich Puppen. In der Welt von Nora Raetsch wird jedes Objekt lebendig: wenn sie sich nur Zeit für sie nimmt. Spontan zieht die Frau mit den dunklen Augen das blaue Frotteehandtuch vom Haken in ihrer schmalen Küche und dreht einen kleinen Kopf in den Stoff hinein. Sofort meint man auch Arme und Beine zu entdecken, denn die Erfahrung sieht mit.
Wenn die Potsdamerin an diesem Wochenende zu der zweitägigen Theaterwerkstatt „Schlafmützen & wilde Feger“ ins T-Werk einlädt, aus der sich – wie sie hofft – eine ständige Puppentheatergruppe entwickeln könnte, sind es vor allem Dinge aus dem Alltag, die sie dort ausbreitet. Gemeinsam mit etwa 20 Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 16 Jahren möchte sie diese Gegenstände animieren und zu Mitspielern heranwachsen lassen. Sie hat nicht vor, Puppen aus Holz oder Pappmaché zu bauen. Jedenfalls anfangs nicht. Nora Raetsch nährt vor allem die Illusion. Sie bringt Kissen, Nachttischlampe, Kannen, Handtücher und Klopapier mit und wird den Teilnehmern zeigen, dass sich darum ganz wunderbare Geschichten spinnen lassen. Denn in jedem Objekt steckt schließlich eine Puppe. Man muss sie nur beseelen. So die Erfahrung von Nora Raetsch. Und die möchte sie weitergeben. „Vielleicht nähen wir an den ins Handtuch geformten Kopf auch noch zwei Perlen-Augen ran. Aber mehr braucht es wirklich nicht, um als Puppe zu bestehen.“ Schnell werden Objekte zu Schlafmützen oder wilden Fegern. Oder zu „Paperman“. Denn aus Zeitungen lassen sich im Nu zwei Meter große Figuren zaubern, die hüpfen, springen und fliegen und sich ganz schnell wieder zusammenfalten können. Bei der Animation so eines stattlichen Papermans muss man allerdings zu fünft zufassen. Und gerade dieses Zusammentun findet die Theaterfrau reizvoll und für das Werkstattwochenende ein Muss. Am Ende sollen jedenfalls kleine Spielszenen entstehen. So könnten sich die Kinder fragen, warum ist eigentlich immer ein Socken verschwunden und warum liegt der Schal nicht da, wo ich ihn gestern Abend hingelegt habe? Was haben die Dinge eigentlich im Sinn? Nora Raetsch wird viele Anregungen in die Gruppe geben und auf die Fantasie ihrer jungen Mitspieler vertrauen, diese Abenteuertraumreise mit ganz eigenen Ideen zu füllen.
Die menschengroße Puppe Agrippina mit ihren stechend blauen Augen und der blassgrünen Haut, die in Nora Raetschs Küche Platz genommen hat, bleibt indes am Wochenende zu Hause. Sie ist zu alt und gebrechlich, um sich auf ausgelassene Kinder einzulassen. Sie ist nur noch ab und an unterwegs, um Karten zu legen. Denn Agrippina ist in ihrem Künstlerleben die Tarot-Gruschka. Nora Raetsch assistiert der russischen Greisin. „Die Leute glauben ihr jedes Wort“, weiß sie von den Kartenlegungen auf der „Murkelbühne“ in Berlin. Nora Raetsch mag diese Auftritte mit der perfekt gebauten Puppe, die offensichtlich so etwas wie eine Vertraute und WG-Mitbewohnerin ist. Um mit ihr zu kommunizieren, kommt es auf Feinheiten an. Jeder Handgriff muss sitzen. Eine kleine unbedachte Bewegung und schon könnte sich Gruschka verletzen. Handtuch, Kanne oder Löffel halten da viel mehr aus. „Eine gestaltete Figur wie die Gruschka muss ich bedienen. In einfachen Objekten kann ich mich selbst viel mehr finden“, so Nora Raetsch. Sie ist fasziniert von diesen magischen Momenten, wenn der Löffel plötzlich zum Auto oder zur Schlange wird und seine Eigendynamik offenbart.
Die 34-jährige Puppenspielerin hat schon früh gelernt, tiefer in das Wesen der Dinge zu schauen. Richtiges Spielzeug langweilte sie zumeist, weil es so begrenzt in seinen Möglichkeiten war. Auch gepuppt hat sie kaum. „Ich bin überhaupt nicht der verspielte Typ. Aber ich habe eine Affinität zu Dingen und Materialien. Kein Wunder bei meiner Herkunft, wo alle in der Familie Maler oder Plastiker sind.“ Und so ging sie auch schon früh zur Theatergruppe Zaba im Offenen Kunstverein und hat sich über das Spiel auf der Bühne völlig neu wahrnehmen gelernt. „Wir gingen immer sehr vom Körper aus. Text spielte kaum eine Rolle. Unsere Inszenierungen waren fern von allem Intellektuellen. Und gerade weil ich sehr verkopft bin, hat mir dieses Spiel mit dem Körper sehr gut getan.“ Und da der Offene Kunstverein ein bisschen auch das arme Theater ist, mussten sie ihre Bühnenbilder oft aus Abfällen recyceln. Für Nora Raetsch die ideale Spielwiese. Sie ging auch zum Wandertheater Ton und Kirschen Glindow und ans Hans Otto Theater, um zu schauen, wie man Masken und Puppen baut und fand es toll, wenn am Ende Schauspiel, Malen und Bühnenbau organisch ineinanderflossen. Mit ihren Puppenspiel-Abschlussarbeiten „Der kleine Prinz“ und „Carmen“ an der Berliner Theaterhochschule „Ernst Busch“ tourte Nora Raetsch lange durchs Land. Inszenierungen, in denen sie auf wunderbare Weise mit ihren Puppen verschmolzen war. „Doch es ist schwer, als freie Gruppe zu überleben, gerade wenn man mit mehreren Leuten auf der Bühne steht.“ So reist sie nun mit der alten Gruschka allein umher, gibt Workshops für Pädagogen und freut sich auf die neue Theatergruppe im T-Werk.
Samstag und Sonntag, 26./27. Januar, 12 bis 16 Uhr, T-Werk, Schiffbauergasse, ab 28. Januar montags 16 bis 18 Uhr. Der Workshop ist frei, der Kurs kostet monatlich 10 Euro. Anmeldung unter Tel. (0331)719139
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