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Kultur: Wenn einer plötzlich stoppt

Das „Sehsüchte“-Festival setzt einen Schwerpunkt auf die Momente, die alles verändern können

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An einem schönen Urlaubstag in Italien, am Gardasee, gerät die Welt von Sibylle ins Wanken. Bei einem Bergspaziergang geht eine andere Frau an ihr vorbei, auf eine Felsenklippe zu und stürzt sich in die Tiefe. Später muss Sibylle erkennen, dass sie mit dieser Frau mehr verbindet als die ähnliche Kleidung, die beide tragen. „Mich hat gerade die subjektive Perspektive von Sibylle interessiert“, sagt Michael Krummenacher, der Regisseur des Films. Wechsel von Farben und Helligkeiten suggerieren Sibylles Blick auf die Welt. Obwohl der Film mit Horror- und Fantasie-Elementen spiele, sei es eigentlich nicht besonders schwierig gewesen, eine Finanzierung zu bekommen, so die Produzentin Gwendolin Stolz. „Das lag wohl am guten Drehbuch.“

Wie sich die Weltwahrnehmung verändert, wenn sich der Blickwinkel verschiebt, darum geht es unter anderem in den Filmen des „Sehsüchte“-Festivals 2015. Wenn gewohnte Verhaltensmuster aufbrechen, wenn ein Rädchen im Getriebe nicht mehr rundläuft, gerät Geplantes aus der Bahn. Das gilt für den Film wie für die Festivalplanung. Das Zusammenspiel von Filmemachern und Publikum steht dieses Jahr im Zentrum der „Sehsüchte“, der Dialog soll angekurbelt werden.

Der Bahnstreik macht das Gespräch zwischen Nachwuchsfilmern und Publikum allerdings nicht gerade einfacher. „Wir merken schon, dass weniger Zuschauer aus Berlin kommen“, sagt Charlotte Gondolf, eine der Organisatorinnen des Festivals und Jurymitglied. Die Kinos sind nicht so voll wie erhofft, dramatisch sei es aber nicht. 40 Filmemacher aus der ganzen Welt sind noch am zweiten Tag der „Sehsüchte“ in Potsdam eingetroffen.

Weit reisen möchte auch die 71-jährige Thea in dem Film „Der späte Vogel“. Eine unerwartete Möglichkeit dazu sieht sie, als sie auf den Astronauten eines selbst gebastelten Raumschiffes trifft, das in dem Wäldchen vor ihrem Haus abgestürzt ist. Theas Mann ist nicht begeistert von der Aussicht aufs Reisen. Zudem hat er gerade Geburtstag und bekommt von Freunden einen Fernsehsessel geschenkt. Aus dem möchte er augenscheinlich überhaupt nicht mehr aufstehen. Alles soll bleiben, wie es immer war. Mit vorgehaltenem Gewehr muss ihn seine unternehmungslustige Frau davon überzeugen, in die zusammengenietete Weltraumkapsel einzusteigen. Eine große Liebe zum verspielten Detail zeigt der Film von Simon Riedl und Felix Ruple, wenn nach dem Raumschiffstart plötzlich Stücke des Geburtstagskuchens durch die Luft fliegen oder das Armaturenbrett im original 70er-Jahren Look konstruiert ist.

Was passiert, wenn der Dialog abbricht und plötzlich Sprachlosigkeit herrscht, erzählt Bela Lukac in seinem Film „Stillstand“. Das ältere Ehepaar Berger hat einen Urlaub in der österreichischen Provinz geplant. Offensichtlich liegt einiges zwischen den beiden im Argen, denn plötzlich stoppt der Mann den großen Volvo auf einem Parkplatz in der Provinz. So behindert er den Wochenmarkt, der dort eigentlich stattfinden sollte. Kein Wort sagt der Mann während der zwei Tage, die er auf dem Marktplatz steht. Als seine Frau handgreiflich wird und ihn schlagen will, stoppt sie ein Polizist. Erst recht grantig, beginnt die Frau anscheinend doch nachzudenken, wie es um das Verhältnis zu ihrem Mann steht. „20 Jahre Ehe lassen sich kaum in 37 Minuten Film erklären. Aber ich wollte die Situation doch irgendwie auflösen“, erklärt der Lukac. Am nächsten Tag, als die zwei wieder aus der Stadt fahren und der Stillstand aufgehoben ist, fangen sie plötzlich und unvermittelt lauthals gemeinsam an zu lachen. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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