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Kultur: Wenn Knospen sprießen

Enrico Nagel stellt seine geheimen Gärten in der Reihe „Red Wall“ im Waschhaus aus

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Mit ganzer Kraft versuchen sich die zarten Mohnblüten in den Vordergrund zu drängen. Vorbei an der prächtigen Konkurrenz streben die Pflanzen immer höher und höher. Wollen alles überragen, buhlen mit ihrem knalligen Anstrich im dichten Strauß des Blütenzaubers um Aufmerksamkeit. Doch vergebens. Die fragilen Geschöpfe mit den graziösen Stängeln und den hauchdünnen Blütenblättern verschwinden im Meer der Farben. Kräftige Dahlien, grelle Orchideen, glitzernde Diamanten und seidene Stoffe stehlen ihnen den Auftritt.

Auf Enrico Nagels neuesten Collagen ist der Frühling ausgebrochen. Rosen sprießen aus zarten Damenhälsen, dunkle Disteln breiten sich wie Flügel hinter dem schmalen Rücken einer anonymisierten Mode-Ikone aus und riesige rosafarbene Orchideen verdecken ganze Männerköpfe auf den Werken des Berliner Illustrators. Ab dem heutigen Donnerstag werden insgesamt 16 seiner ungewöhnlichen Zusammenschnitte aus Mode- und Gartenmagazinen in der Ausstellungsreihe „Red Wall“ im Waschhaus zu sehen sein. Die auf grau-braunem Skizzenpapier aufgetragenen Figuren unterscheiden sich in ihrer Farbvielfalt grundlegend von den älteren Werken des mit 25 Jahren noch jungenhaften Künstlers mit akkurat geschnittenem Seitenscheitel und glatt rasiertem Gesicht.

„Ich hatte es satt, immer etwas Düsteres zu machen“, erklärt Nagel die Bilder seiner Reihe „Secret Garden“. Es scheint, als hätte er parallel mit dem Wechsel der Jahreszeiten seinen Collagen das Düstere und Bedrohliche nehmen wollen. Ragten in den alten Werken noch dichte Aschewolken oder grelle Stichflammen aus Hemdkragen oder Ärmel, sprießen nun bunte Blumensträuße auf den Bildern. „Es ist ein Spiel von Kompositionen und Farben“, sagt Nagel. Dennoch meint er, seinem Stil treu geblieben zu sein. „Ich möchte provozieren, nun aber auf harmonische Art und Weise.“

Doch man muss genau hinsehen, um das Provozierende zu entdecken: So bilden die Enden eines spitz zugeschnittenen Vorhangs und einer Handtasche die Form zweier Teufelshörner auf dem Rumpf eines Models, in der Hand hält der Mann eine Blume. An anderer Stelle ragt der gezackte Heiligenschein von Maria hinter eine Orchidee auf einem Männerkörper hervor. Auf diese Weise wolle er die Modewelt mit ihren perfektionierten künstlichen Bildwelten hinterfragen. Köpfe sind auf Nagels Bildern nicht zu sehen, sie landen im Papierkorb.

Seit acht Jahren befasst sich der Künstler mit den bunten Papierschnipseln. Mal ist es eine besondere Tasche, mal eine glänzende Plastiktüte. Schon zu Schulzeiten habe er Collagen für sich entdeckt. Bevor er ein Volontariat in einer Galerie absolvierte, habe er es auch mit Malerei und Street-Art probiert, doch Gefallen habe er nicht daran gefunden. So greife er auch heute noch zum Stift, zum Beispiel um sich im Bus die Fahrzeit zu verkürzen, aber die Bilder seien privat. Nagel zeigt nur die Werke, die er mit Schere und Klebstoff zu Papier bringt.

Stapelweise sammelt der freischaffende Künstler Hochglanzmagazine in seinem Studio. Wie ein Schnipsel-Jäger durchforstet er die Kataloge nach besonderen Details. Auf einem breiten Tisch arbeitet er an mindestens zehn Collagen gleichzeitig, schiebt seine Fundstücke von rechts nach links, „um zu sehen, welche Möglichkeiten es gibt.“

Für Red-Wall-Kurator Clemens Porikys bieten Nagels Werke viel Spannung. In der Verfremdung der Modekörper, in ihrer Anonymisierung und in ihren aufrührerischen Posen liege die Kraft der Collagen, in der sich die Natur ihren Raum zurückerobere. Nagel sei zudem erst der zweite Künstler, der für die Ausstellung im Waschhaus neue Werke entworfen habe. Mit ihnen werden erstmals überhaupt Collagen in der Ausstellungsreihe im Treppenhaus des Waschhauses zu sehen sein. Es komme nicht selten vor, sagt Porikys, dass feiernde und tanzende Gäste vor den Bildern inne hielten. „Die Red Wall ist eine tolle Schnittstelle zwischen Nachtleben, Spaß, Kunst und Kultur“, sagt Porikys. Erst im vergangenen Jahr wurde der Treppenaufgang erstmals mit Kunst bestückt. Etwa alle zwei Monate werden die Werke gewechselt, Künstler können sich bei Porikys bewerben.

Enrico Nagel, der auch schon ein CD-Cover für die Berliner Technoqueen Ellen Alien entworfen hat, freut sich über die Chance, seinen Blütenzauber nun in Potsdam präsentieren zu können. Steife Galerien, sagt er, passten sowieso nicht zu ihm und seinen frühlingshaften Collagen. „Dafür bin ich nicht der Typ.“

Vernissage von „Secret Garden“ am heutigen Donnerstag, 3. Mai, um 19 Uhr im Waschhaus, Schiffbauergasse. Eintritt frei. Mit dabei ist die Performancegruppe „Team la Supreme“. Infos: redwall-art.de

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