zum Hauptinhalt

Kultur: Wer bist Du?

Hacke und Lorenzo im Nikolaisaal

Stand:

Kein Kind, das es wohl nicht genossen hat, vorgelesen zu bekommen. Oder Erzählungen der Großeltern gelauscht hat. Manches kannte man schon auswendig, von anderem konnte man nie genug kriegen. Und plötzlich ist man selbst in dem Alter, wo man erzählen soll. Vielleicht war das der Grund, weshalb der Nikolaisaal so gut gefüllt war zur Lesung von Axel Hacke und Giovanni Lorenzo. Einmal zuhören können, einen Blick in das Wohnzimmerfenster zweier Männer werfen, die sich extra für uns Zeit nehmen, um aus ihrem Leben zu plaudern und weiterzugeben, was ihnen wichtig ist.

Am Frühstückstisch sei die Idee zu dem gemeinsamen Buch „Wofür stehst Du?“ entstanden, nach einer Nacht mit reichlich Rotwein, wie Lorenzo, Journalist und Moderator, verrät. Wer sich an diesem Mittwochabend Buch und Eintrittskarte gönnte, wurde einen nicht unerheblichen pekuniären Betrag los; 80 Minuten moderierte Lesung waren ganz hübsch, hätten aber auch gut in ein paar Nachtgesprächen unter den Freunden, mit oder ohne Rotwein, abgearbeitet werden können. Was ist so faszinierend daran, wenn zwei Männer, zwei langjährige Freunde, ihre Kindheitserinnerungen und Geschichten der Großväter, ihr intellektuelles Erwachen, ihre Freuden, Sorgen und Nöte mit uns Unbekannten teilen?

Dass sie es überhaupt tun. Nicht, dass sie etwas besonders Interessantes preisgeben: Wenn wir unsere eigenen Schatzkästchen aufbrechen, kann sicherlich jeder aus einem ebenso faszinierendem Vorrat schöpfen. Etwas gibt es immer zu erzählen, und sei es noch so (vermeintlich) nichtig. So darf man Hackes und Lorenzos Büchlein, ein handliches, schickes Hardcover, eine Art Tagebuch, an dem zwei Personen gearbeitet haben, kenntlich gemacht durch unterschiedliche Schriftarten, gern als Aufruf zur Wiederbelebung der Erinnerungs- und Erzählkultur verstehen. „Wofür stehst Du?“ hätte auch heißen können: Wer bist Du?

So wie sich Hacke und Lorenzo, der Schriftsteller aus Braunschweig und sein Kollege im Geiste aus Italien, eingebettet in einem großen Familienverband sehen, der sie, ebenso wie die sie umgebende Gesellschaft, zu dem werden lässt, was sie sind, könnte man bei sich selbst auf Spurensuche gehen. Therapeutischer Nutzen nicht ausgeschlossen. Die beiden machen es vor: Auf gut 200 Seiten keine Rechtfertigungen, keine Entschuldigungen, dafür der Aufruf zu wacher Toleranz: der vergangenen sowie kommenden Generation gegenüber. Nach all dem jugendlichen linken Aktivismus dieser Nachkriegsgeneration stellen sie sich die Frage: Zuerst die Welt retten – oder sich selbst? Heute zählen sie sich zu „Deutschlands vielleicht glücklichster Generation“, haben die Apokalypse und das Waldsterben überlebt und eigene Familien gegründet. Trotz traumatischer Erinnerungen an „Birgit“, eine etwas langatmige Geschichte über das Normalste der Welt: Beziehungen und Freundschaft.

Dass der Abend dennoch Unterhaltungswert hatte, lag an den besonders humoristischen Stücklein. Einen Vater mit stets wachem Glasauge, einen Opa, der mit dem Jagdgewehr auf Stare im Kirschbaum ballert – gern nimmt man solche Bilder mit nach Hause. Damit unsere Enkel auch mal was zu erzählen haben, verbietet Hacke seinem Sohn eben nicht den Erwerb einer Soft-Air-Gun und lässt den Jungen sich austoben, bis das Ding kurze Zeit später im Kinderzimmerschrank verödet. Das ist vielleicht das Beste an dem Buch: Die Abwesenheit des moralischen Zeigefingers. Das war es doch wert. Steffi Pyanoe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })