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Illusion eines Lebens. Blanche (Melanie Straub) lebt in der Vergangenheit, sie träumt vom ehemaligen Glamour, dem Benimm, den Verehrern. Die Realität erträgt sie nur mit einer Flasche Gin.

© HL Böhme

Kultur: Wer nicht räumt, kapituliert

Markus Dietz’ Inszenierung von „Endstation Sehnsucht“ am Hans Otto Theater

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Die Bühne: ein Strand. Zugemüllt mit den Spuren menschlichen Zusammenlebens. Durcheinandergewirbelte Überbleibsel eines Alltags, der irgendwo anders, in einer ordentlicheren Welt, mal funktioniert haben mag. In der klugen Bühne von Mayke Hegger ist dieser Alltag jedoch in seine Einzelteile zerfallen: ein Kühlschrank, ein Sessel, hinten eine Matratze, irgendwo eine Badewanne und, vorne links, ein Klo. Dieser intimste, privateste Alltagsort steht in Markus Dietz’ „Endstation Sehnsucht“ ganz dicht an der Rampe. Er spielt eine Art stille Hauptrolle. Kein Zufall: Bei Tennessee Williams gibt es keine Privatsphäre, keine Rückzugsorte.

Als einziges Requisit (Wandschränke und Waschbecken ausgenommen) wird dieses Klo seine Position im Lauf der nächsten zweieinhalb Stunden nicht verändern. Alles andere schleppt das Ensemble in musikdurchzogenen Spielpausen immerzu hin und her, von links nach rechts, in eine Reihe zur Rampe hin oder als Barrikade parallel zum Publikum. Ganz schön verwirrend, dass dabei keine ordentlichen Anordnungen entstehen, man nicht versteht, warum die sich auf der Bühne so abrackern. Nur: Ordnung gibt es eben nicht in der Welt von Tennessee Williams, Ordnung gibt es auch nicht in den Köpfen seiner Charaktere. Seine Figuren sehen sich einer Welt aus Fragmenten gegenüber – willkürliche Schnipsel einer Realität, die von sich aus keinen Sinn ergeben will. Dass Williams‘ Figuren so gut darin sind, sich ihre eigene Welt zusammenzubauen, ist für sie eine Frage des Überlebenstriebs. Das macht sie zu so charismatischen, verzweifelten Lügnern, Spinnern, Improvisateuren. Für die Inszenierung von Markus Dietz heißt das: Wer aufhört, zu räumen, sich seine Welt „zurechtzurücken“, hat verloren. Kapituliert.

Aber erst einmal stolpert, nein: stolziert Melanie Straub als Blanche Dubois in die Welt aus verstreutem Strandgut wie ein Tier in den falschen Käfig. Auf spitzen Absätzen und in weißem Kostüm, eine große Sonnenbrille im blassen Gesicht, darüber eine breite Hutkrempe. Ja: unnahbar, eine perfekte Diva. Oder zumindest doch eine Tochter aus bestem Haus. Als die ist sie aus der Südstaatenprovinz nach Orleans zu ihrer Schwester Stella gereist, als die wird sie sich bis zum Ende versuchen zu inszenieren. Aus „gutem Haus“ waren beide Schwestern mal, aber das Erbe ist aufgebraucht. Auch mit dem Familienstammsitz ist jetzt Schluss – er hieß nicht zufällig „Belle Rêve“, schöner Traum.

Die sanfte, realistische Stella (Elzemarieke de Vos) hat sich inzwischen mit ihrem Mann Stanley (René Schwittay) in ihrer Mittellosigkeit arrangiert. Blanche aber hält sich mit aller Kraft an der Illusion eines Lebens fest, das einmal war: der Glamour, der Benimm, die Verehrer! Die Realität ist eine andere: Was vom ehemaligen Leben geblieben ist, passt in einen Koffer, Verehrer hat sie nur noch fiktive. Noch bevor ihre Schwester sie begrüßt hat, stürzt Blanche kichernd, mit großen gelenkigen Schritten zum Klo, um daneben eine Flasche Gin zu finden. Das erste Glas (von wegen „nie mehr als eins“!) wäscht sie noch brav aus; viele andere folgen.

Blanche, die zerschlissene Diva, fühlt sich wohl in der ärmlichen Welt der zerstreuten Gegenstände: In die gebrechliche Campingliege lässt sie sich mit vergnügt-spitzem Schrei fallen. Denn sie weiß: In kaputter Kulisse kann sie umso besser strahlen. Stellas Unterschichtenmachomann Stanley begutachtet sie mit größter Genugtuung. Nein, so ein Affe, entzückend! „Tausende von Jahren sind einfach spurlos an ihm vorübergegangen!“ Und René Schwittays Stanley gibt ihr mit aggressiver Entschlossenheit den Urmenschen: Er brüllt und schwitzt und schmeißt sich mit aller Wucht in die Rolle des Proleten – an einer Stelle hinkt er als Gorilla über die Bühne. Ein seltener Moment, der in Stanley mehr zeigt als den potenten Proll. Die meiste Zeit muss René Schwittay den ungehobelten Schreihals geben – mit und ohne Unterhemd, mit und ohne Jogginghose.

Generell scheint die Lust der Regie am Proletentum groß. Regisseur Markus Dietz will ein Klassenpanorama zeichnen, und zwar in aller Deutlichkeit: Nicht nur Stanleys rüpelige Pokerkumpels (Michael Schrodt, Dennis Herrmann, Raphael Rubino) sind die ganze Zeit über mit auf der Bühne unterwegs, sondern auch zwei dekorative Milieumädchen (Meike Fink und Josephine Niang), von denen letztere das Pech hat, keinen einzigen Satz sagen zu dürfen. Das ist dann nicht mehr Milieustudie, sondern nur noch überflüssige Illustration. Überhaupt werden die Unterschichtler um Stanley als ziemlich sinnentleert gezeigt: triebhafte Mensch-Tiere, die entweder krakeelen, über Bierflaschen vor sich hindämmern oder übereinander herfallen.

Diese soziale Polemik wirkt überzogen – sie lenkt vor allem bis kurz vor der Pause von der Tatsache ab, dass das, was da passiert, vor allem ein unerhört starker, bestens getimter Schauspielerabend ist. Freilich vor allem eine One-Woman-Show: Melanie Straub ist eine ungemein schmale, zerbrechliche Blanche – manieriert bis zur Hysterie, immer wieder um Haltung ringend, und immer wieder, unwillkürlich, geschmeidig und ungemein tragikomisch die Haltung verlierend. Dann kippt ihre Stimme in quiekend-hohe Tonlagen, zerknickt der Körper wie ein zu hart angefasstes Streichholz oder zerfließt butterweich an dem, der gerade greifbar ist – Gegenstand oder Mensch.

Zum Beispiel Stanleys Kumpel Mitch (ein unsentimentaler, zarter, gefährlicher Koloss: Raphael Rubino). Kurze Zeit glaubt Blanche, in ihm, dem gutmütigen Normalo, Halt zu finden. Einmal trägt er sie auf den Armen: Winzig klein sieht Blanche da aus, guckt überrascht, verzückt, erschreckt diesem Fels in die Augen. Ganz blank. Aber es kann, wird nicht funktionieren: Blanche ist nicht die, für die der Mitch sie hält – kein unschuldiges, schutzbedürftiges Fräulein. Nicht nur. Sie hat eine Vorliebe für Knaben, von der Mitch nichts weiß. Dabei hätte es so leicht sein können: „Nicht, was wahr ist zählt, sondern was wahr sein sollte“, fordert Blanche. Mit der Realität geht das auf Dauer nicht zusammen. Deswegen ist die Bühne am Ende leergeräumt, sind die Gegenstände zu einer Festung aufgestapelt, aus der Blanche nur noch in die Klinik kriechen wird. Endlich herrscht Ordnung. Kapitulation.

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