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Kultur: „Wie konnte sie es wagen!“

Die Berliner Autorin Ursula Keller über Sofja Tolstaja / Heute großer Tolstoj-Abend in der Villa Quandt

Stand:

Frau Keller, wer die von Ihnen zusammen mit Natalja Sharandak verfasste Biografie über Sofja Tolstaja liest, bekommt nicht gerade ein schmeichelhaftes Bild von ihrem Gatten, dem großen Schriftsteller Lew Tolstoj vermittelt.

Finden Sie wirklich, dass hier ein weniger schmeichelhaftes Bild von Tolstoj gezeigt wird?

Allein sein Umgang mit der Familie, das hartherzige Bestehen auf immer neue Schwangerschaften trotz Fehlgeburten macht ihn nicht gerade sympathisch.

Aber wir haben versucht, keinen der beiden Partner in dieser Ehe zu verurteilen. Wir haben sehr ausgiebig mit Zitaten gearbeitet und uns mit eigenen Kommentaren sehr zurückgehalten, damit sich jeder ein eigenes Bild machen kann.

Verurteilt wird Lew Tolstoj in „Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstoj“ in keiner Weise. Das weniger schmeichelhafte Bild entsteht doch vor allem dadurch, dass durch Ihre ausführlichen Beschreibungen der Lebensumstände und des Alltags in der Familie Tolstoj der Mythos vom großen und unantastbaren Schriftsteller von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ wieder auf eine menschliche Ebene zurückgeholt wird.

Ja, natürlich war Tolstoj unbestritten ein großer Schriftsteller und einer der größten Realisten. Unbestritten ist auch seine Rolle als mutiger Kritiker von Kirche und Staat. Aber gleichzeitig war er auch Mensch. Und das wird die Ursache für all die Konflikte und Auseinandersetzungen in dieser Ehe gewesen sein.

Warum Ihre so intensive Beschäftigung mit Sofja Tolstaja? Mittlerweile haben Sie schon ein zweites Buch mit dem Titel „Lew Tolstoj – Sofja Tolstaja. Eine Ehe in Briefen“ herausgebracht.

Das ist einem Zufall geschuldet. Meine Co-Autorin Natalja Sharandak hatte eine Rezension gefunden über Sofja Tolstajas Roman „Eine Frage der Schuld“, die 1994 in einem russischen Literaturmagazin erschienen ist. In dem Jahr, in dem dieser schon 1892/93 niedergeschriebene Roman tatsächlich zum ersten Mal erschienen ist. „Eine Frage der Schuld“ war ihrerseits eine Antwort auf die Novelle „Kreutzersonate“ ihres Mannes. Allein das war schon eine erstaunliche Neuigkeit für uns, dass die Frau von Lew Tolstoj auch geschrieben hat.

„Eine Frage der Schuld“ soll Tolstaja geschrieben haben, weil sie sich in der „Kreuzersonate“ wiedererkannt und sich durch diese Darstellung tief gedemütigt gefühlt hatte.

Ja, und die Rezension war in einer derart denunziatorischen Art und Weise verfasst, dass uns das regelrecht erschüttert hat. Wie konnte sie es wagen, an der Seite des großen Schriftstellers Tolstoj selbst zur Feder zu greifen.

Man wollte selbst heute noch nicht akzeptieren, dass Sofja Tolstaja nicht einfach nur Ehefrau und Mutter sein wollte und sich auch noch erlaubte, ihre eigene Sichtweise niederzuschreiben?

Für Russland trifft diese Sichtweise auf jeden Fall noch heute zu. Diese Rolle der Frau ist nach wie vor so definiert und gerade was das Bild von Tolstoj betrifft. Obwohl im Moment auch eine Neubewertung seiner Person zu beobachten ist.

In der russischen Tolstoj-Forschung?

Nein, dort gerade nicht. Die Impulse für eine Neubewertung gehen vor allem von der westeuropäischen Literaturwissenschaft aus.

Wie sind Ihre Arbeiten zu Sofja Tolstaja bisher in Russland aufgenommen worden?

Die Russen lesen, wenn sie eine andere Sprache lesen, vor allem Englisch. Das Deutsche wird leider nicht rezipiert.

Gibt es denn kein Interesse, Ihr Buch ins Russische zu übersetzen?

Nein, schlimmer noch. Wir haben in Russland in verschiedenen Archiven geforscht und haben immer wieder gesagt, dass wir an einer Biografie über Sofja Tolstaja arbeiten. Wir haben auch Bücher dorthin geschickt. Also muss den Wissenschaftlern vor Ort unsere Arbeit bekannt sein. Im März ist nun eine russische Biografie über Tolstaja erschienen. Aber unsere Arbeit ist in diesem Zusammenhang völlig ignoriert worden. Zwar wird ihre Rolle, die sie beispielsweise mit ihren wiederholten Abschriften von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ bei der schriftstellerischen Arbeit von Tolstoj sehr wohl hatte, mittlerweile bewertet. Ihre literarischen Arbeiten werden da aber nur mit jeweils einem Satz erwähnt.

Am Nimbus des großen Tolstoj darf auch heute niemand kratzen?

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will jetzt nicht behaupten, dass die Rehabilitierung von Sofja Tolstaja erst mit unseren Nachforschungen und Arbeiten begann. Die hat schon in den 80er und 90er Jahren auch in Russland mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher und Auszügen aus ihrer Autobiografie „Mein Leben“ begonnen. Aber dieser Prozess geht dort immer noch sehr langsam voran.

Welche Erklärungen haben Sie dafür?

Die ganze Tolstoj-Forschung war bis in die 80er Jahre dominiert von den Tolstoianern um Wladimir Tschertkow, ein Freund von Tolstoj und Herausgeber des Gesamtwerkes und von seinen Nachfolgern. Die hatten natürlich kein Interesse daran, dass an dem fast heiligenhaften Bild Tolstojs irgendeine Korrektur vorgenommen wird.

War das wirklich eine so große Überraschung, dass die Frau von Tolstoj selbst Romane und Erzählungen geschrieben hatte?

Ja, das war eine absolute Überraschung. Als 1994 ihr Roman „Eine Frage der Schuld“ in Russland erschien, kannten selbst wir nicht mehr als dieses gängige Bild von der Ehefrau an Tolstojs Seite und der Mutter von 13 Kindern. Aber uns wurde da sofort klar, dass es mehr geben muss als dieses Klischee, viele andere Facetten im Leben der Sofja Tolstaja. Und das hat dann unsere Neugier geweckt.

Trotzdem ist Ihre Biografie über Sofja Tolstaja im Grunde auch eine Biografie über Lew Tolstoj.

Ja, weil wir der Meinung sind, dass die Biografie von Tolstaja nicht erzählt werden kann ohne die Biografie ihres Mannes. Im Grunde kann man sagen, dass unser Buch eine Doppelbiografie geworden ist.

Tolstoj war ein ständig Unzufriedener, ständig Suchender, geplagt von Selbstzweifeln, der immer wieder damit drohte, seine Familie zu verlassen, die er wiederholt auch als seine größte Last und als sein größtes Unglück bezeichnet hat. Von solchen Ausbrüchen abgesehen, wie wichtig war dann doch diese Ehe, das Zusammenleben mit Sofja Tolstaja?

Das kann man sagen: Diese Ehe hat ihn gerettet. Vor der Heirat hatte Lew Tolstoj einige Jahre schon nicht mehr geschrieben, war regelrecht zerfressen von Selbstzweifeln. Die damals 18-jährige Sofja vermochte ihm dann Halt zu geben. Erst mit ihrer Hilfe konnte er „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ schreiben. Selbst Tolstoj-Biografen, die der Tolstaja weniger wohlgesonnen waren, haben die Vermutung geäußert, dass er ohne sie diese Romane wohl nicht geschrieben hätte. Natürlich war diese Ehe von zum Teil sehr grausamen Konflikten geprägt. Aber andererseits haben sie fast ihr ganzes Leben lang, diese gemeinsamen 48 Jahre, um ihre Liebe gerungen und immer wieder Kompromisse gefunden, die ihnen das Zusammenleben auch weiterhin ermöglichten.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Ursula Keller und Natalja Sharandak stellen ihr Buch „Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs“ (Insel Taschenbuch, 12 Euro) am heutigen Mittwoch, 19 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47, vor. Im Anschluss präsentieren Eveline Passet und Raimund Petschner ihre Hör-Collage „Ein Dorf im neuen Russland. Jasnaja Poljana und das Erbe Tolstojs“. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 6 Euro

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