Kultur: Wie viel Tragik verträgt der Mensch?
Eine Tagung über Aufkärung – Antike
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Eine Tagung über Aufkärung – Antike Was fängt ein Zeitalter, das an die Vernunft des Menschen und die Verstehbarkeit der Welt glaubt, mit den dramatischen Überlieferungen eines Sophokles, Euripides und Aischylos an? Mit Vater-, Mutter- und Kindsmördern, mit Inzest und Göttern, die Menschen bei lebendigem Leibe von Tieren fressen lassen? Das Verhältnis des 18. Jahrhunderts der Aufklärung zum Tragischen der griechischen Antike ist ein in der Forschung bisher vernachlässigtes Feld. Deshalb veranstaltete das Forschungszentrum Europäische Aufklärung (FEA) eine Tagung zum Thema: „Das Tragische im Denken des achtzehnten Jahrhunderts“. Ein durch die wissenschaftlichen Entwicklungen getragener Fortschrittsglaube führte im 18. Jahrhundert zu einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den antiken Griechen, wie Roland Galle, Prof. der Literaturwissenschaft, in seinem Eröffnungsvortrag schilderte. Was im 17. Jahrhundert dem Dramatiker Racine als Beispiel der Vollkommenheit gegolten habe, wurde nun als grob und archaisch empfunden. Die Aufklärung war daran interessiert, so Galle, das Irritationspotential der griechischen Tragödie einzudämmen. Kein Schock sollte das Weltbild des Publikums irritieren. Die Bemühungen galten vielmehr einer Tragödie, welche die bestehende Welt bestätigte, das gerechte Wirken Gottes offensichtlich machte und das moralische Empfinden der Zuschauer festigte. Wie Roland Galle zeigte, begann in der Aufklärung eine Distanzierung vom Tragischen, die sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzte. Doch es gab im Jahrhundert der Aufklärung nicht nur die Distanzierung von einer als überwunden geglaubten Epoche, in der Glück und Unglück dem Zufall überlassen schienen, statt mit Tugend und Schuld in Zusammenhang zu stehen. Vanessa de Senarclens (FEA), die für Konzeption und Organisation der Tagung verantwortlich war, widmete sich einer heute vernachlässigten Quelle, die im 18. Jahrhundert jedoch große Beachtung gefunden hatte. 1730 veröffentlichte der Jesuit Pierre Brumoy sein Buch über das griechische Theater, in dem er versuchte, die griechische Kunst seinen Zeitgenossen nahe zu bringen. Ausgehend von der Vorstellung, große Kunst zeige sich darin, dass sie die Zuschauer zu packen imstande sei, hob Brumoy die Bedeutung der griechischen Tragödie hervor. Ihn faszinierte, so Vanessa de Senarclens, die Kraft der Sprache, die tiefe Menschenkenntnis und die kunstvolle Darstellung menschlicher Leidenschaften. Seine Zeitgenossen empfand Brumoy als kaltblütig und emotional verarmt, umso wichtiger erschien ihm die Fähigkeit der griechischen Kunst, starke Emotionen hervorzurufen. Und so bemühte sich Brumoy, wie Vanessa de Senarclens zeigte, um eine Kunstvermittlung, die dem Griechischen gerecht wurde und es gleichzeitig durch eine gewisse Glättung für die Menschen des 18. Jahrhunderts annehmbar machte. In Bezug auf die bildende Kunst zeigte auch Martin Dönike (TU Berlin) die Ambivalenz des 18. Jahrhunderts gegenüber dem Tragischen der Antike. Bei Winckelmann und Lessing gab es zunächst den Versuch, das Tragische zu unterdrücken, indem das Schöne und Edle hervorgehoben wurde. Als Winckelmann in Italien jedoch mit griechischen Originalplastiken konfrontiert wurde, die Tragik und Gewaltsamkeit ausdrückten, relativierte er seine Beobachtung von „edler Einfalt und stiller Größe“. Der tragische Charakter der griechischen Kunst mit all seiner Grausamkeit fand Eingang in die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts und wurde, wie Dönike feststellte, zum Vorbild für die ästhetische Bewältigung großer Emotionen. Dagmar Schnürer
Dagmar Schnürer
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