Kultur: „Wir Mexikaner haben eine große Begabung zu lieben“
Der Vocalkreis Potsdam war für fast zwei Wochen in Mexiko und wurde für seine fünf Konzerte mit Begeisterung gefeiert
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Mexiko in den Tagen vor dem Totenfest. In Kirchen, aber auch in Hotels und Restaurants sind liebevoll Altäre für die Verstorbenen aufgebaut worden. Es gibt Verkaufsstände nur für Skelette unterschiedlicher Größen und Materialien. An vielen Ecken werden Totenköpfe feilgeboten– aus Schokolade, Zuckerzeug oder Teig mit Sesamumhüllung, in die als Zähne Erdnüsse gedrückt sind. Was für ein Land! Unendliche Natur, Kakteen und Palmen, Farben wie auf Bildern von Frida Kahlo, lebhafte Menschen, fröhliche Kinder. Überall aber auch Bettler, Indiokinder, die Bubblegum anbieten, Straßenhändler und Heerscharen von Schuhputzern mit nach oben offenen Preisen. Nirgendwo ist es still, Lautsprecher plärren, Musikanten spielen. Animierte Ampelmännchen geben das Tempo für die Überquerung der Straße vor, am Ende der Grünphase beginnen sie zu eilen. Taxifahrer, unterwegs in grünweißen Käfern, bekreuzigen sich beim Vorbeifahren an Kirchen. Der Verkehr ist stets kurz vorm Kollaps, es stinkt nach Benzin. Dabei ist die Luft ohnehin schon dünn, Mexiko-Stadt liegt mehr als 2 200 Meter über dem Meeresspiegel.
Das war das Ziel einer fast zweiwöchige Konzertreise des Vocalkreises Potsdam mit seinem Leiter Matthias Jacob. Fünf Konzerte standen auf dem Programm: im Convento San Gabriel in Cholula, im Kulturzentrum in Tehuacán, einem ehemaligen Kloster, im Salon Baróco in Puebla, in der Katholischen Universität Puebla, der gastgebenden Institution, und in der deutschen Gemeinde in Mexiko-Stadt. Initiiert und maßgeblich vorbereitet hatte die Reise Katrin Heinrichs, die acht Jahre in Mexiko gelebt hat. Es war ein Höhepunkt in der über zwanzigjährigen Geschichte des Chores.
Das Programm war anspruchsvoll. Matthias Jacob hatte deutsche Musik ausgewählt: „Ihr Heiligen, lobsinget dem Herrn“ und „Hoffe auf den Herrn“, zwei Psalmmotetten von Johann Hermann Schein (1586-1630) sowie – im Jahr des 400. Geburtstags von Paul Gerhardt – die Motette „Befiehl du deine Wege“ von Johann Christoph Altnikol (1719-1759). In den überbordenden katholischen Kirchen mit ihren Rosenkranzkapellen entfalteten die „Marienlieder“ des Protestanten Johannes Brahms eine bis dahin nur geahnte Schönheit. Verbeugungen vor dem katholischen Gastland waren auch die Motetten „Christus factus est“ des Mexikaners Francisco Lopez Capillas (um 1608-1674) sowie „Tu es Petrus“ und „Tantum ergo“ von Maurice Duruflé (1902-1986).
Das Publikum war phänomenal. Hier konnte man sehen, was es heißt, jemand sei „ganz Ohr“. Die Menschen hörten dem Coro Alemán mit dem ganzen Körper zu, auf ihren Gesichtern lag ein erfülltes, ja beinahe entrücktes Lächeln. Dann Szenenapplaus, Bravo-Rufe, standing ovations. Nach dem Konzert kamen die Zuhörer, um sich mit den Sängerinnen und Sängern fotografieren zu lassen oder um sie zu berühren – ein fast magischer Versuch, das musikalische Ereignis mit sich zu nehmen. „Ihr singt wie die Engel“, sagte eine Frau. Der Bürgermeister von Tehuacán im mexikanischen Hochland bat zum Gruppenfoto und intonierte aus diesem heraus mit Heldenstimme die Händel-Arie „Adeste, fideles“. Wir Mexikaner haben eine große Begabung zu lieben, erklärte er die Begeisterung. Das Ensemble fühlte sich von dieser Sympathie getragen. Mühelos wechselte sein Klang zwischen durchsichtiger Polyphonie, strahlenden Akkorden und einem schwebenden Piano, für das der Chor auch in dieser Zeitung gerühmt worden ist.
Zwischen den Konzerten blieb Zeit für Besichtigungen. Die Tempelanlage von Teotihuacán mit der berühmten Mond- und Sonnenpyramide, die Pyramide von Cholula und die Ausgrabungen von Monte Alban zeigten den Reichtum der präkolumbianischen Epochen der Zapoteken, Mixteken und Azteken. In Mexiko-Stadt begeisterten die Kathedrale am Zócalo, wie die meisten zentralen Plätze heißen, der Templo Mayor mit dem gigantischen Stein der Mondgöttin, die ihrem Bruder Huitzilopochtli zum Opfer fiel, und die Häuser von Frida Kahlo und Leo Trotzki in Coyoacan. Die historischen Innenstädte von Puebla und Oaxaca sind Weltkulturerbe, häufig durch Erdbeben zerstört, aber immer wieder mit restauratorischem Geschick aufgebaut.
In Oaxaca, einem reinen Schmuckstück, wurde mit Umzügen, Blasmusik und Feuerwerk eines mehrere hundert Jahre zurückliegenden Blitzschlages in der Kathedrale gedacht. Für viele mögen die Detonationen über die ganze Nacht jedoch auch eine Erinnerung an die Unruhen im vergangenen Jahr gewesen sein. Damals wurden Proteste der Bauern, denen sich die Lehrer angeschlossen hatten, blutig niedergeschlagen. Eine Frauenkooperative verkauft Fotografien, auf denen das bis an die Zähne bewaffnete Militär und getötete Aufständische zu sehen sind. Auf der Rückfahrt nach Mexiko wurde der Bus gestoppt. Uniformierte forderten die Reisenden auf, den Bus zu verlassen. Auf dem staubigen Boden wurde jedes Gepäckstück auf Waffen und Drogen untersucht. Bewaffnete mit schmutzigen Händen nahmen selbst die Zahnbürsten in Augenschein. Auch das ist Mexiko.
Immer wieder tauchen auf der Fahrt Vulkane und schneebedeckte Bergkuppen auf. Vom Popocatépetel, den man seit Jahren nicht betreten darf, steigt Rauch auf. Der höchste Berg Mexikos ist der Pico de Orizaba mit 5747 Meter. Ein freier Blick auf seinen Gipfel gilt als Zeichen, dass man wiederkommen werde. Wir sahen die Spitze. E.W.
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