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Kultur: „Wir waren damals so naiv“ Buch über Potsdamer Bürgerkomitee vorgestellt

Gegen die 111 Tage des Rates der Volkskontrolle in Potsdam waren die 26 Jahre der 1963 auf Staatsbeschluss gegründeten Arbeiter-und-Bauerninspektion (ABI) in der DDR natürlich ein Nichts. Beiden standen vor der Aufgabe, staatliche und gesellschaftliche Prozesse zu kontrollieren, zu korrigieren, die einen per Order, die anderen ganz freiwillig im Ehrenamt.

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Gegen die 111 Tage des Rates der Volkskontrolle in Potsdam waren die 26 Jahre der 1963 auf Staatsbeschluss gegründeten Arbeiter-und-Bauerninspektion (ABI) in der DDR natürlich ein Nichts. Beiden standen vor der Aufgabe, staatliche und gesellschaftliche Prozesse zu kontrollieren, zu korrigieren, die einen per Order, die anderen ganz freiwillig im Ehrenamt. Umarmung der Macht aber macht jeden freien Willen tot: Die ausdrücklich gegen Willkür und Korruption installierten Sicherungen der ABI versagten bald vor der Allmacht der Mächtigen. Und wie erging es dem Potsdamer Bürgerkomitee, dessen Name „Rat der Volkskontrolle“ an Leninsche Vorbilder erinnert?

Unmittelbar nach der staatlich legitimierten „Besetzung“ der hiesigen Stasi-Zentrale am 5. Dezember 1989 gegründet, lebte dieser teils auf 50 Personen angewachsene „Rat“ auch nur 111 Tage. Dann kamen die echten Kommunalwahlen. Dann das Westgeld. Dann die Einheit. Aus war es mit der Demokratie von unten; die vorgestanzte Parteienordnung übernahm. Wie es aber in diesen Tagen zuging, erzählen Gisela Rüdiger und Gudrun Rogall im 20. der „Historischen Hefte“, herausgegeben von der Landeszentrale für Politische Bildung. Am Donnerstag wurde dieses Paperback im proppenvollen Vortragsraum vor Ort präsentiert. Viele ältere Gesichter im Publikum, Detlef Kaminski darunter. Als einer „Held“ zu ihm sagen wollte, protestierte der ehemalige Mitarbeiter des VEB Gebäudewirtschaft Potsdam und Mitglied des Sprecherrates des Neuen Forum kaum, Ehre wem eine gebührt.

Für die einen ist diese Neuerscheinung schlichtweg „die Revolutionsfibel von Potsdam“, für andere „ein Dokument des Scheiterns“. Die Autorinnen erzählen darin aus eigener Erfahrung, wie es zur Gründung dieser politisch bunten Gruppe kam, was sie, von Telefonanschluss und Wohnungsbeschaffung bis zur Stasi-Bekämpfung alles getan hat, wie man mit der Macht umging, wie die zwar noch bewaffnete (Ohn-)Macht mit ihnen. Für ein paar Dutzend Tage schien es, als würde diesem Rat alles gehorchen, Stadtverwaltung und SED-Bonzen, Stasi, Zoll und Militär. Staatsanwaltschaft und Polizei waren ja auf Einladung von Kaminski aktiv an der „Besetzung“ der Stasi-Zentrale beteiligt. „Die Bevölkerung vertraute uns“. Die Macht freilich nicht.

Trotz revolutionärer Wachsamkeit wurden heimlich Akten beiseite geschafft, alte Strukturen geschützt – und Inoffizielle Mitarbeiter ins Komitee geschleust. „Wir wussten gar nicht, wie gefährlich das damals ist. Wir waren so naiv, machten einfach“, sagen Gisela Rüdiger und Gudrun Rogall heute. Ordentlich ging es ohnehin nicht zu, eher chaotisch, fügte Kaminski hinzu. Die BNN unterstützten den Rat damals als einzige Zeitung in Potsdam. Viel Stoff auf 100 Seiten, Texte, Dokumente, Fotos. Am Schluss ein Resümee der Autorinnen: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der jetzigen Form stehen bei ihnen merkwürdigerweise unter der Rubrik „erreicht“. Dass man bei allen Diskussionen über Inoffizielle Mitarbeiter vergaß, die Hauptamtlichen des Ministeriums für Staatssicherheit zu richten, unter dem Gegenteil. Trotzdem finden sie ihre Arbeit im jetzigen System gut aufgehoben. Detlef Kaminski sah das etwas anders.

Er sei eher frustriert, was von der damaligen Arbeit übriggeblieben ist, sagte er. Aufwand und Ergebnis stimmten einfach nicht überein. Überraschend bat er dann für die Früheren um Nachsicht: Fünf Prozent der Bevölkerung hätten gegen die DDR gekämpft, fünf die Faust in der Tasche geballt, der Rest , abgesehen von der Machtclique, suchte sich eine Nische. Keiner habe jetzt das Recht, diesen Rest, diese Mitmacher zu verurteilen. „Ihr“, sagte Kaminski und meinte das ziemlich bewegte Volk des Publikums, „hättet euch auch so verhalten!“ Gerold Paul

Gisela Rüdiger, Gudrun Rogall: „Die 111 Tage des Potsdamer Bürgerkomitees. Rat der Volkskontrolle 1989/90“ ist kostenlos in der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 17, erhältlich

Gerold Paul

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