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Kultur: Wir waren das Volk

Wo sind die Protagonisten des Umbruchs geblieben? Es ging ’89 um Ideen, nicht um Posten. Aber die Erinnerung birgt die Erkenntnis: Veränderung ist möglich. Von Roland Jahn

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Wir sind das Volk!“ Aus Hunderttausenden Kehlen schallte es durch die Straßen von Leipzig, Dresden, Rostock und Dutzenden Städten der DDR. 25 Jahre ist das her. Noch immer sind es Bilder und Erinnerungen, die berühren, die unter die Haut gehen. Mir geht es zumindest so. Es war eine Befreiung, auf so vielen Gebieten. Es war, als hätte jemand die Menschen aus 40-jähriger Starre erlöst. Und mit jedem Montag und bald mit jedem Tag wurden die Menschen überall in der DDR mutiger, befreiter und sagten endlich auch öffentlich das, was sie sich so lange nicht trauten zu sagen: „Weg mit dem Alleinherrschungsanspruch der SED“ – „Stasi in die Produktion“ – „Freie Wahlen“ – „Freie Gewerkschaften“ – „Reisen bis nach Hawaii“. Die Kraft der Menschen, sie war zu spüren und spätestens seit dem 9. Oktober, dem Tag der großen Leipziger Montagsdemo, als die Bilder kurz darauf auch im Westfernsehen ausgestrahlt wurden, für alle zu sehen.

Diese Oktobertage sind für mich fast noch kraftvoller als jener 9. November, der die Weltordnung aus den Angeln hob. Der Druck auf der Straße war zum Druck gegen die Mauer geworden, und dem Volk an dieser Stelle nachzugeben, hat, so kann man aus der sicheren Distanz von heute sagen, gleich den Eisernen Vorhang und die politische Weltordnung des Kalten Krieges mit einstürzen lassen. So kraftvoll kann ein Volk sein, wenn die Umstände richtig sind und die Zeit reif ist.

Wo ist der Geist der Revolution geblieben? Was ist von ihm im vereinten Deutschland noch präsent? Und wo sind die Protagonisten dieser Zeit? Antworten darauf zu finden, ist nicht ganz leicht. Wenn ich mir vorstelle, ich würde jemanden treffen, der damals all das erlebt hätte und dann nach 25 Jahren nach Deutschland zurückkehren würde – was würde er finden aus jenen Tagen im Berlin von heute und worüber würden wir uns unterhalten?

Auf den ersten Blick würde er viele von denen, die damals entscheidende Wegbereiter der Revolution waren, nicht so schnell wiederfinden, zumindest nicht an den Stellen, an denen heute Entscheidungen gefällt werden. Protagonisten der friedlichen Revolution – Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Reiner Eppelmann, Rolf Henrich, Sebastian Pflugbeil, Markus Meckel, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Ingrid Köppe, Jens Reich, Reinhard Schult, Werner Schulz, Konrad Weiß, Wolfgang Ullmann – standen in jenen Wochen plötzlich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Einige von ihnen saßen am Runden Tisch, andere wurden bald darauf in die Volkskammer gewählt oder waren für die Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin und die Abwicklung des MfS und die Öffnung der Stasi-Akten mitverantwortlich.

Wenn der seltene Gast fragen würde, müsste ich sagen, dass von den genannten Kämpfern von damals heute keiner mehr im Bundestag sitzt. Natürlich würden wir über Joachim Gauck, den Bundespräsidenten, sprechen, den ehemaligen Pastor aus Mecklenburg-Vorpommern, der im Herbst 1989 Sprecher des Neuen Forums in Rostock wurde und dann Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Mit ihm ist auch ein Stück des Geistes der friedlichen Revolution in das höchste Amt des Staates eingezogen. Auch Joachim Gauck steht für die Befreiung von Bevormundung und den Mut, die Dinge offen zu benennen.

Und an die Pressesprecherin des „Demokratischen Aufbruchs“, einer Sammlungsbewegung, die sich noch in der DDR mit der Ost-CDU zusammenschloss, würde ich ihn erinnern und berichten, dass sie seit neun Jahren die Kanzlerin dieses Landes ist. Das ist nicht wenig. Und dennoch, so würde ich ihm berichten können, wird gern lamentiert, dass von denen, die damals auf die Straße gingen, eigentlich niemand so richtig „groß rausgekommen“ ist. Angela Merkel ist zugegebenermaßen keine Person, die sich in tiefsten DDR-Zeiten schon auf den Weg in eine andere Gesellschaft gemacht hatte. Das soll ihr Engagement in den Umbruchzeiten nach der friedlichen Revolution nicht schmälern. Ihre politische Karriere ist bemerkenswert, ihre Talente unbestritten. Und vielleicht ist sie auch ein gutes Beispiel dafür, was es braucht, im Betrieb der Politik erfolgreich zu sein. Revolutionäre sind nicht unbedingt gute Politiker.

Jenem seltenen Besucher des Landes würde ich dann erklären, dass das nicht dramatisch ist. Wir waren damals angetreten, die Verhältnisse in der DDR zu verändern. Das Ziel hieß, die Einhaltung der Menschenrechte zu gewähren, nicht politische Macht zu erringen. Wer sich genau zurückerinnert, der wird zum Beispiel noch wissen, dass es für das Neue Forum zunächst darum ging, die Verhältnisse in der DDR zu verändern und einen demokratischen Sozialismus zu befördern. Hätte die SED die Forderungen erfüllt, so hätte sich das Neue Forum auch wieder auflösen können, dachten manche. Und der Schritt, sich in eine Partei zu verwandeln, die in die Volkskammer gewählt werden konnte, ist nicht wenigen schwergefallen. Wir würden uns gut darüber austauschen können, dass das schwere Alltagsgeschäft der Politik, voller Kompromisse und pragmatischer Entscheidungen, nicht der Stoff ist, für den Revolutionäre auf die Straße gehen.

Aber es wäre mir wichtig, einen zweiten Blick zu werfen auf das, was die friedliche Revolution hinterlassen hat, im Berlin und im Deutschland von heute. Dass das, was die Dissidenten vom Prenzlauer Berg, aus Jena und Leipzig, die Pfarrer der Jugendgemeinden, die Friedensinitiativen, die Umweltgruppen in langen Jahren mutig auf den Weg gebracht haben, auch heute noch lebendig ist. Denn es ging ihnen um Ideen, nicht um Posten oder Macht. Es ging um Ideen, die die Macht haben, Gesellschaft zu verändern. Und ich würde ihm sagen, jenem seltenen Besucher, dass wir uns genau deshalb immer wieder an diese Zeit zurückerinnern, um einen Kompass zu finden in den aufgeregten und schwierigen Zeiten des Heute. Dass wir genau deshalb die Stasi-Akten geöffnet haben und uns an authentischen Orten an die Zeit der Repression erinnern – weil wir sie überwunden haben.

Vielleicht wird er denken, dass das etwas optimistisch daherkommt. So viele scheinen sich schließlich nicht erinnern zu wollen. Er wird vielleicht in der Zeitung gelesen haben, dass junge Deutsche kaum noch wissen, was die DDR war und was die Mauer bedeutete. Und er wird vielleicht auch gehört haben, dass die Wahlbeteiligung in Thüringen und Sachsen so niedrig war wie noch nie in der Geschichte des vereinten Deutschlands und dass es bald einen thüringischen Ministerpräsidenten geben wird, der einer Partei angehört, die in direkter Nachfolge jener SED steht, die für eine so lange Zeit die Unterdrückung der Menschenrechte garantierte. Ich würde ihm sagen, dass all das zur Freiheit einer Gesellschaft dazugehört. Die Freiheit zu wählen oder auch nicht zu wählen. Die Freiheit, sich mit der Geschichte des eigenen Landes zu beschäftigen oder auch nicht. Eine Freiheit, die wir dieser friedlichen Revolution verdanken. Daher sollten wir uns an diesen Moment unserer nun gemeinsamen Geschichte immer wieder erinnern. Er ist Inspiration für die Veränderbarkeit von Gesellschaft. Dies ist ein Geschenk, das die Menschen, die die Revolution begonnen haben, uns für alle Zeiten hinterlassen haben.

Roland Jahn (61)

ist seit 2011 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Als SED-Gegner war er 1983 aus der DDR ausgebürgert worden und arbeitete in der Bundesrepublik als Journalist.

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