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Kultur: Witz, Originalität und Leichtigkeit
Die 10. „intersonanzen“ griffen nach dem Ganzen
Stand:
Ganz zuletzt hat auch der Nikolaisaal noch seine Chance bei den zehnten „intersonanzen“ bekommen. Weil die Bedingungen zur Ehrung des Altmeisters der absoluten Musik, Paul-Heinz Dittrich, beim besten Willen nicht in der Sperl-Galerie auszuführen war, sprang Potsdams erste Konzert-Adresse mit seinem Probenraum ein. Dort stand jener Flügel, den Frank Gutschmidt, einzig authentischer Dittrich-Interpret, zur Ausführung der „Klaviermusik V“ unbedingt brauchte. Die kollegiale Hilfe war für den Brandenburgischen Verein Neue Musik am Sonntagabend zwar nicht gratis, dafür war auch hier der Komponist anwesend, dynamisch, achtzigjährig, seinem kongenialen Interpreten in großer Dankbarkeit verbunden. Sein ausdrucksvolles und ideenreiches Opus hat zwei Adressaten: Als „explosion of a memory“ ist es seinem „lieben Freund Heiner Müller“ gewidmet, sowie dem einzigen, der Dittrich so absolut spielen kann: Gutschmidt nämlich. Ein starkes Erlebnis, als Hörer und Stauner selbst mit Müllers „Glücklosem Engel 2“ ringen zu müssen, auf den sich dieses Opus von 1996 bezog.
Ein Impuls von so vielen! Dieses Festival, das so großen Wert auf den Live-Charakter der Neuen Musik legt, fand gleichsam überall statt, auf dem Luisenplatz und dem Hauptbahnhof, im Konzertsaal und der Galerie, eigentlich aber, trotz Straßenbahnquietschen, Krähenschrei und Glockengeläut, im Kopf der bis zuletzt treuen Hörerschaft. Wie vieles gäbe es über diese vier Tage zu sagen, über die vielen brillanten Ensembles, über anregend-wunderbare Konzerte, über die vielen frischen Impulse von Gegenwart zu Gegenwart.
Der Griff nach dem Ganzen war offensichtlich, nicht nur bei Dittrich: Trotz allerbesten Frühlingswetters wurden die Besucher der Samstagnachmittag-Veranstaltung im Filmmuseum mit so vielen Ideen und studentischer Frische belohnt, dass es eine Freude war: Ein ganzer Masterstudiengang Filmmusik war unter Leitung von Ulrich Reuter (HFF) angetreten, mal außerhalb kommerzieller Vorgaben zu zeigen, was man so draufhat. Diese eine Stunde „Kino in dir“ war sogar inspirierender als der filmmusikalische Beitrag im Anschluss, denn hier wurde verwegene Musik gemacht, auch wenn auf der Leinwand nur „Schwarzfilm“ lief, witzig, jung, phantastisch! Wie das Nora Volkova Ensemble dann improvisierend auf einen Man-Ray-Film von 1929 reagierte, war weniger überzeugend als seine anderen Beiträge: „music for saxophon and piano“ von Joan Arnau Pàmies ist ein stiller Dialog, der gar nichts einlöste, „Difference II“ von Johnny Herbert bestand aus dem, was der Hörer eigentlich nicht hören sollte. Genial! Wo Kunst nicht mehr der „Schönheit“ nachläuft, da fängt sie plötzlich an zu reden!
Und am Sonntag, beim nachmittäglichen „Hitzetest“ im Hause Sperl? Guter Besuch, viel Applaus für Taymur Strengs „Klavierstück“ mit den stark reduzierten Elektroniksentenzen. Man merkt schnell, der Missklang liegt nicht in der herumirrenden Klavierstimme, sondern im hochtonigen Flimmern der Außenwelt, „Gesellschaft“ genannt. Mit einem Lächeln im Gesicht und einer Superstimme interpretierte die Sopranistin Yvonne-Elisabeth Friedli dann ein Stück von ANTHEMION-Chef Andreas F. Staffel. Fünf raffinierte Satzkonstruktionen führen den Hörer der „ÜBerLinien“ (Uraufführung) vom hilflosen Lippenschluss eines anonymen Ichs über einen brillanten Satz „Rap“ und einem lyrisch-vollkommenen Vocalise-Part in die Sprachlosigkeit zurück, ganz toll! Nicht minder intersonant stellte das Ensemble den Dialogpart „Dae-Hwa“ (für Flöte und Violine) der Koreanerin Eun-sun Lee und das witzige „mixed doubles“ von Ralf Hoyer dar. Hier gab die Akustik eines Tischtennisspiels die Vorlage.
Gut, dass auch der Potsdamer Gisbert Näther mit einer Uraufführung dabei war. Er hat sich ein düster-schönes, vor allem von Saxophon und Flöte getragenes Stück „Nacht“ ausgedacht, nur die Rolle des Klaviers darin überzeugte nicht zwingend.
Ein kleines Fazit: Es fällt auf, wie stark sich diese Neue Musik der Romantik verpflichtet, da kommt wohl Intersonanz zu Intersonanz. Zweitens gibt sie echte Impulse nur, wer in ihr nicht Schönheit, sondern Wahrhaftigkeit sucht. Drittens hörte man Stücke, die in ihren Beschreibungen überraschenderweise gar keine Zeit mehr brauchen: Zeit ist Bewegung, Zustand ist Raum. Witz, Originalität und Leichtigkeit in der Darstellung taten das ihre, der Trägheit des dumpfen Genießens zu entkommen. Wer Phantasia bemüht, muss einfach spielen können. Wie ein Kind, sonst bekommt man das Ganze ja nicht.Gerold Paul
Gerold Paul
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