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Kultur: Zeitbomben

„Supergau Deutsche Einheit“ in Potsdam

„Supergau Deutsche Einheit“ in Potsdam Auch wenn Uwe Müllers Bestseller mit „Supergau Deutsche Einheit“ einen etwas reißerischen Titel trägt, jeder der rund dreißig Zuhörer am Mittwochabend in der Landeszentrale schien erschüttert über die nüchtern vorgetragenen Fakten und Diagramme über den Zustand in den Neuen Ländern. Es gäbe keinen ostdeutschen Ministerpräsidenten, der sein Buch nicht kenne, so der Autor. Matthias Platzeck hat Müller, Journalist bei „Der Welt“, jüngst sogar als Arbeitsgruppenleiter bei seinem „Demographiekongress“ dabei haben wollen. Drei tickende Zeitbomben zählt Müller auf. An seinen Zahlen und Statistiken lässt sich nichts deuteln, man kann höchstens die Augen zu machen. Fünfzehn Jahre nach der Einheit kommt der Volkswirt und Soziologe Müller zum Fazit: die Einheit ist aus wirtschaftlicher Sicht im Kern gescheitert. Bombe eins: Es ist nicht genügend eigene Wirtschaftskraft entwickelt worden. Nur fünf Großbetriebe (in der DDR waren es 147) gibt es in den neuen Bundesländern. In Tschechien, das im Wettbewerb wesentlich schlechtere Voraussetzungen besaß, gibt es heute elf. Das Wirtschaftswachstum ist das geringste in Europa, die osteuropäischen Reformstaaten wie Slowenien beginnen, die neuen Länder zu überholen. Müller spricht von fehlenden Investitionen, „dramatischer Deindustrialisierung“, von 100 Arbeitsplätzen in der Industrie sind 10 erhalten geblieben. Wie solle man damit ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum erreichen, die einzige Möglichkeit für Ostdeutschland, Anschluss an die Wirtschaft im Westen zu finden? Bombe zwei: Die dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte, die erst nach der Wende entschuldet wurden und jetzt, nach nur 15 Jahren – außer Sachsen – mit mehr als 4000 Euro sogar eine höhere Pro-Kopf-Verschuldung als der Westen haben. Eine Transferwirtschaft habe sich in Ostdeutschland ausgebildet, in der 85 Milliarden Euro von West nach Ost geflossen sind. „Weltweit ohne gleichen“, sagt Müller. Ohne diese Transfers würden die ostdeutschen Länder sofort kollabieren. 40 Prozent der privaten Einkommen werden von staatlichen Transferleistungen bestritten. Bombe drei: Die katastrophale demographische Entwicklung, von der Brandenburg am stärksten betroffen ist. Abwanderung aus dem Osten von 1,5 Millionen, meist junger Menschen, „atemberaubend“ schnelle Vergreisung, und die geringste Geburtenrate weltweit. Wie sollen so die Sozialsysteme finanziert werden? Einen Absturz der ostdeutschen Wirtschaft erwartet er, wenn die Mittel für den Solidarpakt II ab 2008 reduziert werden. Müller bleibt in der Diskussion angenehm sachlich, jeder merkt, dass hier keiner Material zusammen getragen hat, um „Frustration“ oder „Proletarisierung“ zu untermauern. Wenn die Analyse bitter ist, wo liegen die Lösungen, fragten die Zuhörer, was mache die Politik? Müller spricht von „systematischem Verdrängen der Probleme durch die Politik“, und dass die politische Klasse Ostdeutschlands die bestehenden Probleme leugne. Den „Supergau“ verhindern könne nur ein radikales Herangehen: Bürokratieabbau, indem die Länderstrukturen abgeschafft werden. Die Länder würden eine Konkurrenz untereinander bilden, die man sich nicht leisten könne. Ostdeutschland müsste zu einer Sonderwirtschaftszone werden. Selbst so würde eine Gesundung lange dauern. Im Mezzogiorno, dem Armenhaus Italiens, hätten 130 Jahre noch nicht gereicht. M. Hassenpflug

M. Hassenpflug

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