Kultur: Zeitkiller
Zwischen Poesie und seelenlosem Glamour: Umjubelte „Momo“-Premiere am Hans Otto Theater
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Als endlich die Zigarren der grauen Herren erlöschen, entbrennt im Saal ein großer Jubel. Keiner aus dem Publikum hätte wohl auf diese zweieinhalb Stunden verzichten und sie auf ein Zeitsparkonto deponieren wollen. Denn Muße muss sein, das führt uns „Momo“ in einer wahren Explosion von Theatermagie spannungsreich vor Augen. Es berührt geradezu körperlich, wenn sich über das Land der Sonne die Schatten ausbreiten, sich seelenlose Hochhäuser wie Bajonette aufpflanzen und plötzlich die menschliche Wärme gefriert.
„Momo“, dieser über 30 Jahre alte Klassiker von Michael Ende, entpuppt sich in der zupackenden Inszenierung von Andreas Rehschuh zwischen märchenhafter Poesie und seelenloser Gigantonomie geradezu bedrückend aktuell. Wir tauchen am Samstag zur Premiere am Hans Otto Theater ein in eine mediterrane Fantasielandschaft, in der die Ruinen einer jahrtausendealten Kultur mit leisen Stimmen wispern und die Gemüter erhellen. Hier wird das wilde, das sanfte, das zuhörende Mädchen Momo gefunden und von allen ins Herz geschlossen. Die Freunde sitzen vor der untergehenden Sonne beisammen und erzählen sich auf den steinernen Stufen ihre Geschichten. Dabei geht es keineswegs leise zu. Der feurige Esprit der Südländer gibt den Zeittakt vor. Mit Witz und Temperament, Slapstick und Pantomime, vor allem aber mit unbändiger Spielfreude werfen sich die Schauspieler ins vergnügliche Treiben, in dem auch mal die Fetzen fliegen. Doch Momo weiß zu besänftigen, in dem sie die richtigen Fragen stellt. Und da reicht mitunter ein einziges „Warum?“
Doch dann machen sich die grauen Herren Angst einflößend breit. Mit ihren unentwegt qualmenden Zigarren vernebeln sie die Sinne. Sie stehlen den Menschen die Zeit: Zeit, um miteinander zu reden, zu singen, zu tanzen. Wie heutige Vermögensberater wuseln sie mit ihren Aktenkoffern durch die Menge, um die Leute von dem Vorteil des Sparens zu überzeugen. Malochen statt leben, heißt ihre Botschaft, die sie hinterhältig infiltrieren. Die feuerspeienden, drachenköpfigen Graukittel schleichen durch die Betonstadt – und auch durch das Pausenfoyer – und erinnern in ihrem eiskalten Geheimdienst-Gebaren an die schlimmsten Mafiosi.
Diese Zeitdiebe machen sich alle Freunde Momos untertan, die nur noch durch die Gegend hetzen. Fusi, der Friseur (Akhtarjan Saidi), „vergeudet“ nicht mehr die Zeit mit seiner tauben Mutter, sondern rasiert im Akkord die Köpfe. Nino, der Wirt, schmeißt die alten Männer aus seinem Lokal, die sich nur an einem Glas Wein festhalten. Er schwenkt um auf einen plastikfeinen Schnellimbiss. Und die „Masse“ der Kunden lässt sich willfährig wie Marionetten durch die Fastfood-Welt steuern. Sie agieren im Chor, sind aller Individualität beraubt.
Nicolaus-Johannes Heyse findet für dieses flotte Spiel, bei der kein Zuschauer auf die Uhr schaut, immer wieder überraschende Bühnenbilder, die bestens mit den Videoprojektionen korrespondieren. Und Grit Walthers Kostüme stehen dieser Verzauberung in nichts nach. Sie untermalen die volltönende Lebenslust ebenso wie den Lebensverdruss und werden durch die kraftvolle und elegische Musik von Gundolf Nandico klangreich gebettet.Der Zuschauer spürt in jeder Szene die Liebe zum Detail: von der Salatblatt fressenden Schildkröte (Pavel Spatz), über den Flugblatt-Regen auf die Zuschauer bis zum Zeitschiff von Meister Hora. Diesen Zeit-Kapitän aus 1001 Nacht gibt Roland Kuchenbuch in liebevoll großväterlicher Wärme, mal heiter gelassen, mal versonnen, dann zutiefst beunruhigt. Seine Gespräche mit Momo, die Juliane Götz so wunderbar schlicht und staunend und mit anrührender kindlicher Offenheit füllt, faszinieren in ihrer philosophischen Tiefe. Auch wenn sicher nicht alle Kinder den geistigen Ausflügen in die Zeit folgen können, bleiben sie doch ganz dicht am Geschehen, das immer wieder zwischen Ernst und Heiterkeit hin und her spaziert.
Dafür sorgen natürlich vor allem die Darsteller mit ihren vielschichtig gezeichneten Charakteren. Wie Marcus Kaloff als Beppo Straßenkehrer. Es rührt an, wie er unverdrossen seinen Besen schwingt und dabei so glücklich ist. „Ich denke immer an den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich.“ Doch als Momo plötzlich aus dem alten Theater verschwindet, verlässt er die vertraute Straße, kämpft um seine Freundin. Aber die Polizei verhöhnt ihn nur in seiner Sorge und der Zuschauer leidet mit an dieser Ignoranz.
Auch Gigi, der redegewandte Fremdenführer, gewinnt durch Holger Bülow eine kesse Sympathie. Doch selbst dieser fröhliche Fabulierer kann sich den grauen Herren nicht entziehen und mutiert zum coolen Superstar. Doch als er Momo wiedertrifft, spürt man seine innere Zerrissenheit zwischen Scheinwerfer-Glamour und dem ehrlichen Applaus der Freunde.
Friederike Walke, Jon-Kaare Koppe und Philipp Mauritz spielen sich mit Bravour und Geschwindigkeit gleich durch mehrere Figuren und sind in dem facettenreich auftrumpfenden Ensemble wie kleine Glitzersteine. So wie die aus Momos Tasche. Denn statt höher, größer, schöner funkelt manchmal ein kleiner Stein im Verborgenen viel wärmer. Und wird zu Recht umjubelt. Mit ehrlichem, Zeit spendendem Applaus.Heidi Jäger
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