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Kultur: Zeitzeugen der Umbrüche

Das „Kulturjahr der Zehn“ geht in Potsdam vor Anker und bietet in Gesprächen hautnah Erlebtes

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Das „Kulturjahr der Zehn“ geht in Potsdam vor Anker und bietet in Gesprächen hautnah Erlebtes In ihren Biografien spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche. Hautnah erlebten sie mit, wie Diktaturen auf menschliche Seelen trampelten. Nun kommen sie auf Einladung der Initiative „Kulturjahr der Zehn“ als Zeitzeugen der neuen Beitrittsländer zu Gesprächen nach Potsdam und Berlin und setzen auch das eigene Erinnern in Gang. Mit der lang ersehnten Öffnung zum Westen ging nach der Wende sehr schnell die verordnete Bruderliebe über Bord. Auch die persönlichen Kontakte wurden immer spärlicher: statt ins Riesengebirge fuhr man in die Toskana. Inzwischen rücken Ungarn, Polen, Tschechien oder die Slowakei wieder näher: als die Neuen in der EU, aber auch als wieder entdecktes Urlaubsland. Und man hat sich durchaus etwas zu sagen, trifft man sich beim Bier in Gdansk oder im Weinkeller von Budapest. Was ist aus den großen Erwartungen geworden, die die Freiheit versprach; was hat die Entmachtung der Diktaturen in dem Einzelnen freigesetzt? Die Fragen und Sorgen, die die Menschen bewegen, liegen oft dicht beieinander. Und doch weiß man gerade um die tiefen Verletzungen unterhalb der Oberfläche nur wenig. Um dem abzuhelfen, und sich besonders auch den Menschen aus den alten Bundesländern zu nähern, starteten die neuen EU-Mitgliedsländer im Mai die Initiative „Kulturjahr der Zehn“. Durch Malerei, Musik, Theater oder Symposien werben sie vor allem in Berlin für ein Miteinander. Aber auch nach Potsdam strecken die Initiatoren die Hand aus – und die Kulturhauptstadt Potsdam 2010 GmbH greift nur allzu gern zu. Schließlich sieht sich die Stadt schon aus ihrer Tradition heraus als Schmelztiegel europäischer Ideen, was sich vornehmlich in der Architektur spiegelt. In dem jetzigen Projekt „Erlebt – Erzählt“ geht es hingegen um persönliche Schicksale. Zehn Gespräche sind geplant: fünf in Berlin, fünf in Potsdam. Den Auftakt bestreitet am 20. Oktober in der Landeshauptstadt der 1950 geborene polnische Jura-Professor Witold Kulesza, Mitbegründer der Solidarnosc. Inzwischen leitet er am Institut für Nationale Erinnerung die Ermittlungsabteilung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit 1939 von Deutschen, Sowjets und Polen selbst begangen wurden. „Wir wollen durch die Gespräche ein Kapitel unentdeckter Geschichte der Beitrittsländer vermitteln, was gerade durch die sensible Darstellung des persönlich Erlebten besonders eindringlich sein wird“, sagte Zsuzsa Breier, die Leiterin des „Kulturjahres“ auf der gestrigen Pressekonferenz. Sie setzt auf eine intime Atmosphäre dieser Gespräche, die in Potsdam im Alten Rathaus stattfinden und von verschiedenen Moderatoren, u.a. von Christoph Stölzl, moderiert werden. Gespannt darf man am 15. Dezember auch auf den Dekan der Philosophischen Fakultät der University of Malta, Joe Friggieri, sein. Er stand früher der sozialistischen Linken nahe und kandidiert heute auf Seiten der nationalistischen Partei für das Europäische Parlament. Im Januar kommt die Litauerin Ona Narbutiene nach Potsdam, die 1949 mit ihrer Familie nach Sibirien deportiert wurde und sich nach 1955 der Musik verschrieb. Ivan Medek, Bürgerrechter aus Tschechien und nach der Wende Berater von Staatspräsident Vaclav Havel ist am 16. Februar zu Gast. Als eine wichtige Vordenkerin der „Singenden Revolution“ gilt Mara Zalite, die in Sibirien als Kind deportierter Letten geboren wurde. Sie kommt am 16. März ins Rathaus. Zsuzsa Breier äußerte gestern auch den „heimlichen“ Wunsch, dass sich durch das „Kulturjahr der Zehn“ die Beitrittsländer nicht nur mit Deutschland vernetzen mögen, sondern auch untereinander, denn „oft sind die alten Kontakte nach der Wende eingeschlafen.“ Heidi Jäger

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