Kultur: Zu wenig operativ
Der Unternehmer Heinz Dürr sprach über Sozialstaat, Mentalitäten und Reformen
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Der Unternehmer Heinz Dürr sprach über Sozialstaat, Mentalitäten und Reformen „In China wachen 300 Millionen Menschen morgens auf und fragen sich, was sie machen können. In Europa wachen 300 Millionen Menschen auf und fragen sich, was der Staat für sie tun kann.“ Und der Staat kann nichts mehr für sie tun, das steht für Heinz Dürr fest. Der 1933 in Stuttgart geborene Unternehmer, Aufsichtsratsvorsitzender der Dürr-AG, blickt auf ein bis heute überaus erfolgreiches Unternehmerleben zurück. In den 80er Jahren sanierte Heinz Dürr die in Schwierigkeiten geratene AEG und Anfang der 90er führte er Reichs- und Bundesbahn zusammen. Im Rahmen ihrer Reihe „Reformpolitik in Deutschland“ hatte die Landeszentrale für politische Bildung den Unternehmer zum Gespräch geladen. Wie ein agiler Mittfünfziger wirkt Heiz Dürr, der, sobald er zu „schwätzen“ beginnt, die Szene beherrscht. Schwäbischer Dialekt, Humor und originelle Sprüche, treibende Energie, eine unkonventionelle Lockerheit und rhetorisches Talent bewirken, dass man gerne zuhört und den Eindruck erhält: hier weiß einer, wo“s lang geht. Ob er es wirklich weiß, ist schwer zu beurteilen. Aus seiner unternehmerischen Perspektive klingt das, was er sagt, plausibel und sein beruflicher Erfolg scheint es zu untermauern. Reform, so erklärte Heinz Dürr, bedeute in erster Linie, dass etwas anders werde und habe zunächst nichts mit Verbesserung zu tun. Durch die Globalisierung seien Reformen, die eigentlich schon seit Ende der 70er Jahren anstanden, unausweichlich geworden. Dazu komme in Deutschland unter anderem das Ungleichgewicht zwischen Alten und Jungen und die Fehler, die bei der Wiedervereinigung begangen worden seien. Die schlagartige Angleichung der Ost-Mark an die West-Mark habe zum Beispiel Ost-Waren für die Partner im ehemaligen Ostblock unerschwinglich gemacht. Die Unternehmen in Ostdeutschland verloren ihre Kunden. „Wir haben hier in Deutschland, weil“s uns so gut geht, viel zu komplexe Prozesse.“ Ähnlich hinderlich wie dieser Wust an Vorschriften sei das föderale System, sagte Heinz Dürr, das vieles ausbremse oder schlicht blockiere. Wie kann man das, was nach der Hitler-Diktatur sinnvoll war, umgestalten, damit es auf die heutigen Verhältnisse passt? Als wichtige Punkte einer Veränderung nannte Heinz Dürr die Subventionierung von Arbeit, statt von Nicht-Arbeit und die Verhinderung der Schwarzarbeit. Bei Renten- und Pflegeversicherung, die vom Staat eigentlich nicht geleistet werden könne, sei Solidarität gefragt. Solidarität der Jungen gegenüber den Alten und der reichen Elite gegenüber den Wenigerverdienenden. Der Staat solle sich nicht um Arbeitsplätze kümmern, wo er ohnehin nichts ausrichten könne, und nicht um unbezahlbare Sozialstrukturen, sondern um Bildung, Forschung und Kinderbetreuung. Aber die Probleme lägen nicht nur in den äußeren Strukturen. Heinz Dürr prangerte die zur Normalität gewordene Heuchelei in Politik und Wirtschaftselite an, die Unehrlichkeit, die sich auszahle. Ihn habe eine damals bei der Reichsbahn gängige Redewendung nachhaltig beeindruckt: „Das lösen wir operativ.“ Diese Mentalität, sich selbst zu helfen, aus nichts etwas zu machen, die sei den Westdeutschen schon lange und den Ostdeutschen mittlerweile auch verloren gegangen, so Dürrs Beobachtung: „Wir sind zu wenig operativ! Wir brauchen mehr Eigeninitiative und Visionen.“ Dagmar Schnürer
Dagmar Schnürer
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